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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 18. Dezember 2020

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

nein, ich will nicht meditieren! Nicht töpfern in der Toskana, nein, ich will auch nicht balancieren zwischen Leben und Arbeiten. Work-Life-Balance ist schon begrifflich ein Missverständnis, versucht diese unsägliche Wortkombination doch im scheinbar wohlfeilen Gegensatz etwas auszugleichen, das keines Ausgleichs bedarf: Es gibt nur ein Leben! Ausgerechnet in dieser Woche, die – jahresendzeitlich – so gar nicht von heiterer Gelassenheit geprägt war, begegnete mir der Begriff Zeitsouveränität. Da musste ich lächeln … wie einfach es doch manchmal sein kann. Wenn zum materiellen Wohlstand, zum Raumwohlstand noch der Zeitwohlstand dazu kommt ...

Die Zeit ist eine Chimäre, ein höchst eigener, sehr individueller Organismus aus sehr unterschiedlichen Zellen und Geweben – Parzellen und Verbindungen. Manch einer verausgabt sich im Besteigen von Bergen, ein anderer als Posaunist – manch einer tut das eine oder andere beruflich. Oder eben privat. Eine übrigens sehr sinnvolle Unterteilung: beruflich, privat … und vielleicht noch ehrenamtlich – oder neudeutscher: zivilgesellschaftliches Engagement. Wobei dann die Grenzen oft schon wieder verwischen. Ob sie denn notwendig sind, diese Grenzen? In dieser Kraft der Unklarheit, im Balancieren zwischen dem, was ich will, was ich bin und was es vielleicht sein könnte, liegt eine riesige Kraft. Die man nur aushalten muss. Gerade zum Ende eines Jahres. Erst recht zum Ende dieses Jahres!

Deswegen gerade jetzt: Ich wünsche ganz viel Entspannung und Gelassenheit in diesen jetzt kommenden Jahreswechselwochen!

Herzlich
Boris Kochan

 

8daw nimmt sich eine kleine Pause: quasi sich selbst balancierend, ganz und gar souverän. Die nächste – ganz offizielle Ausgabe – erscheint am 15. Januar 2021. Zwischendrin könnte es sein, dass wir mit großer Lust und mehr als freiwillig uns mit einer Neujahrsausgabe der ganz anderen Art verausgaben … wir werden sehen!


Tanderadei im Wellnesshotel
 

In Literatur-beseelten Kreisen wird gerne mal die Geschichte von dem französischen Romancier kolportiert, der, wenn er Schlafen ging, einen Zettel an die Tür gehängt haben soll: »Achtung, Dichter bei der Arbeit!« Leider bleibt dabei stets unerwähnt, ob dem guten Mann seine Träume auch wirklich zu kreativen Höhenflügen verholfen haben. Dass das aber eine zeitökonomische Meisterleistung war, kann man mit Gewissheit attestieren: Ruhe- und Arbeitszeit dermaßen reibungslos fließend eins werden zu lassen, gelingt ja noch nicht mal im voll vernetzten Homeoffice, obwohl sich allergrößte Mühe gegeben wird, die digitale Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit voranzutreiben.

Natürlich hat Letzteres auch notorische Nörgler auf den Plan gerufen wie einen Jonas Frick, der sich darüber beschwert, dass das auch wieder nur so ein kapitalistischer Auswuchs sei, um sich aus fieser Profitgier heraus der Menschen und ihrer Zeit restlos zu bemächtigen. Es wurde eine ganze Gesellschaft für Zeitpolitik gegründet in der Absicht, »Modelle von Zeitsouveränität, von individuellem und kollektivem Zeitwohlstand« zu entwickeln, und schon der Geschwindigkeitsphilosoph Paul Virilio verstieg sich zu der Forderung, es müsse ein »Ministerium der Zeit« eingerichtet werden.

Überhaupt dieser Begriff Zeitwohlstand – klingt der nicht ein bisschen sehr nach sorglosem Tanderadei im Wellnesshotel – nach Müßiggang womöglich? Erinnern wir uns: »Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der Arbeit befohlen hat!« (Luther). Also stürzen wir uns nächstes Mal freud- und schwungvoll in die mitternächtliche Videokonferenz und versuchen dabei tunlichst nicht an jenen Satz von Virilio zu denken, der da sagte: »Überall sind Augen. (...) Wovon sollen wir träumen, wenn alles sichtbar wird? Wir werden davon träumen, blind zu sein.« [um]

 

Nichts weniger, als »jedem Menschen die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben zu ermöglichen«, ist das erklärte Ziel der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Wie das genau aussehen könnte, hat die Gesellschaft in ihrem durchaus inspirierenden Manifest Zeit ist Leben niedergelegt.

 
 

Kaum jemand hat die Wechselwirkung von Beschleunigung und Ökonomisierung der Zeit, mit all ihrem impliziten Verwerfungspotenzial, so genau und eindringlich beschrieben wie der Soziologe Hartmut Rosa. In seinem Buch Resonanz ging er noch einen Schritt weiter und eröffnete dem Problem der fortwährenden Beschleunigung einen versöhnlichen Lösungshorizont, über den die Stuttgarter Nachrichten zurecht schrieben: »Wer an einer kritischen Diagnose der Gegenwart interessiert ist, wird an Rosas Buch nicht vorbeikommen.«


An der Lebenszeit vorbei laufen
 

Wer begehrt, gefragt, kurz: wichtig ist, hatte lange Zeit gar keine Zeit: Terminkalender zum Bersten voll, Kommunikation auf (mindestens) fünf Kanälen, knappe Taktung, leider nur Zeit für kurze Stippvisiten in bedeutenden Meetings (welches Thema?), Tage und Nächte perfekt strukturiert. Selbst die Freizeit steckt voller To-dos. Auf diese Gewöhnung von keine Zeit trifft nun die Erfahrung von Homeoffice und Kurzarbeit, von Zeitinseln, auf denen Mittagspausen, Spaziergänge und lange Gespräche gedeihen. Der Wert von freier Zeit wird wieder spürbar. Doch sind es meist materielle Werte, auf die sich unser Verständnis von Wohlstand bezieht.

Ein weiteres Streben nach schneller oder mehr ignoriert heute die vor uns liegenden großen ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen. Der Sozialwissenschaftler Dr. Jürgen P. Rinderspacher stellt dem materiellen Wohlstand den immateriellen Zeitwohlstand gegenüber, die freie Zeit, die nach eigener Vorstellung gestaltbar ist. Der Wissenschaftler Robert E. Goodin beschreibt das zeitliche Existenzminimum als notwendige Zeit. Sie umfasst »die Summe der Zeit, die für eine das Überschreiten der Armutsschwelle erforderliche Erwerbsarbeit und für die Haus- und Familienarbeit einschließlich der persönlichen Pflege erforderlich ist.« Es ist allerdings durchaus vorstellbar, dass auch die »erforderliche Erwerbsarbeit« mit Inhalten gefüllt ist, die das eigene Wachstum fördern, die eigenen Grenzen verschieben, die Sinn und Freude machen. Dann fallen die notwendige und die freie Zeit zusammen: Das Leben ist ein Fest!

Wie wäre es, wenn wir einen Teil unserer freien Zeit jenen schenken würden, die durch den neuerlichen Lockdown an ihre Grenzen geraten sind? Etwa berufstätigen Müttern und Vätern, deren Kinder derzeit vor verschlossenen Kindergärten oder Schulen stehen – um nur ein Beispiel zu nennen. [gw]

 
 

Zeit verschwenden in großzügigen Dosen, davon singen die Soul-Brüder Roger Ridley und Grandpa Elliott. Dahinter steht die großartige Bewegung Playing for Change, die initiiert wurde, um die Welt via Musik zu inspirieren und Menschen zu verbinden, wo auch immer sie sich befinden: Sittin' on the dock of the bay.


7+1daw
 

8daw – der Name trägt alles in sich, was es zum Zeitgefühl zu sagen gibt. Es dauert nämlich gefühlt immer einen Tag zu lang, bis der Newsletter erscheint: 7 Tage, die leidenschaftlichen Lesern wie 8 vorkommen. Denn das Zeitempfinden hängt von Erwartungshaltung und Wahrnehmungsbedingungen ab. Bei größeren Zeitabständen etwa konzentrieren wir uns auf die Dauer der zwischen Vergangenheit und Zukunft liegenden Spanne, während bei kurzer Taktung der Gegenwartsmoment selbst ins Bewusstsein rückt. Der Begriff Taktung hat dabei etwas von einer Maßeinheit, wobei aber zwischen gemessener und gefühlter Zeit gar keine Relation besteht. Wenn wir bewusst auf etwas warten, fokussieren wir uns auf unsere innere Uhr – die natürlich nur eine Metapher ist, weil es kein Sinnesorgan zur Wahrnehmung der Zeit gibt, welche Wissenschaftler in den neuronalen Bahnen des Körperbewusstseins verorten.

Das Zeiterlebnis korreliert so mit dem Selbsterlebnis, was auch erklärt, dass die Zeit mit zunehmendem Lebensalter rascher verfliegt. Der Grund: Das jugendliche Gehirn nimmt eine größere Zahl Bilder auf und verarbeitet sie schneller, was prospektiv zu einem dichteren, also rasanteren Erleben führt, retrospektiv aber eine gefühlte Zeitdilatation bewirkt. Im Alter nehmen wir reduzierter und langsamer auf, wir scheinen also weniger zu erleben und die Zeit wird gestaucht. Dabei spielt auch eine Rolle, dass das Gehirn alles Neue – und in jungen Jahren ist alles neu – lebhafter registriert als Altersroutinen. Spannend, was das mit unserem Weihnachtsfest macht: Auch wenn es durch Ausgangssperre viel kürzer ausfallen dürfte, wird es uns dank dieses bisher unbekannten Aspektes dreimal länger vorkommen … [sib]

 

Die schönste Verkörperung des Zeitgefühls ist wohl der Vorläufer des Films, das Daumenkino: Hier zerfließen viele Einzelbilder in schneller Folge im Gehirn zum prospektiv kurzweiligen und im Rückblick zeitfüllenden Erlebnis. Also irgendwie das Gegenteil des Geschichtenerzählens in James Joyces‘ Ulysses, der berühmt dafür ist, dass seine Erzählzeit die erzählte Zeit um ein Vielfaches übertrifft, sich zäh zwischen künftigen und gewesenen Momenten aufspannend: »Morgen ist ein neuer Tag, wird sein. Vergangenheit war, ist heute. Was jetzt ist, wird dann morgen, wie es jetzt war, vergangenes Gestern sein.«

 
 

Die Zeit vergeht wie im Flug – der Filmemacher (!) Juan Fontanive bringt Bilder in Bewegung. Seine Daumenkinos der etwas anderen Art stellt der in Brooklyn lebende Maler und Hersteller ganz analog aus Pappe her und packt sie in schlichte Metallboxen. Symbolträchtig arbeitet darin der Zahn der Zeit: Zahnräder. 

 

Das Fundstück der Woche

 
 
Zeitgewinn mal anders: Ob Red Bull wirklich absichtlich – in Zeiten von Kurzarbeit und Entlassungen – Arbeitslosigkeit thematisieren wollte? Trotzdem: lustig. Sehr!

 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel], Nina Shell [nsh], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Flip Book: Courtesy of Imgur


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