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ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 25. September 2020

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

gelernt habe ich – eher aus Versehen und sehr nebenbei – in den 1970er Jahren Zeitschriftengestaltung und Typografie in einem kleinen Grafik-Kollektiv. Der Chef (fast jedes Kollektiv hatte damals einen) war ein verhinderter Kunstpädagoge: Der Radikalenerlass sorgte nicht nur in Bayern dafür, dass die vermutete Indoktrination von Schüler·innen durch Mitglieder linker Parteien unterbunden wurde. Das Studio hatte eine gewisse Grundauslastung durch die kontinuierliche Betreuung von gewerkschaftsnahen Zeitschriften, dennoch war die Auftragslage sehr schwankend … und wenn zum Beispiel die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sparen musste, dann wurde es eng.

Warum ich das erzähle: Die ganze Woche ging es in Berlin beim Deutschen Kulturrat um die Not der Kultur- und Kreativbranche, wie problematisch Gegenwart und Zukunft für viele Künster·innen und Kreative sich darstellen. Ich musste dabei an den Ausweg meines Grafiklehrers denken: Immer wenn kein Geld mehr da war (und das war gar nicht so selten der Fall), bemalte er Bauernschränke und Hausfassaden. Mit seiner Lüftlmalerei konnte er sich dann tage- und wochenlang beschäftigen, versank in eine Art Trance, dachte beim Blumen- und Tassenmalen über Wolkenkuckucksheime und andere Luftschlösser nach … und verdiente damit so richtig Geld. Unvorstellbare 3.000 Mark brachte ein mittlerer Bauernschrank locker – das war damals so richtig viel Asche. Wenn es doch auch für andere so einfach ginge, mit malerischen Luftnummern Geld zu verdienen ...

Herzliche Grüße zum Wochenende
Boris Kochan


Ach, der schnöde Mammon …
 

Dichter bauen Luftschlösser, die von den Lesern bewohnt werden – soll Maxim Gorki mal gesagt haben. Die Miete würde jedoch von den Verlegern kassiert. Ein Satz, der sich prima auch auf andere Kunstsparten übertragen lässt. Gorki, der allerdings am Ende seiner Tage in Saus und Braus lebte – wenn auch unter der Aufsicht des russischen Geheimdienstes – könnte man gepflegt entgegenhalten, dass Künstler·innen nicht nur darben, sondern einige wenige auch ganz gut von ihrer Arbeit leben – Corona hin oder her. So weit, so richtig und doch so falsch, denn auch hinter der verlockenden Fassade von Ruhm und Reichtum waltet ungebrochen das alte Prinzip: The bank always wins. Wie der Markt dabei seine Kinder frisst, zeigt etwa das Schicksal von Mark Rothko, der daran verzweifelt ist, dass seine Bilder für aberwitzige Summen in Privatsammlungen verschwunden sind. Eine Retrospektive, wie in der Münchner Hypo-Kunsthalle, wird es wohl nicht mehr geben, weil die Versicherungssummen die Budgets der Museen sprengen. Das Geschäft mit der Kunst bringt die Kunst zum Verschwinden. 

Noch heftiger geht es im Popmusik-Business zur Sache. Hier teilt sich eine Handvoll Männer den Markt, die in den letzten 20 Jahren in ihren Hit-Factories so ziemlich alles zwischen Britney Spears und Miley Cyrus groß gemacht haben. Dabei tauchen die Herren namentlich so gut wie nie auf. Ist auch schlau, denn dann würde die unersprießliche und durchaus beabsichtigte Selbstähnlichkeit der von ihnen fabrizierten Songs wahrscheinlich noch mehr auffallen. Normierung als ökonomisch-ästhetisches Maß aller Dinge? Aber war da nicht mal was, von wegen Kunst lebe gerade auch vom Normbruch? Adornos steile These, Kunst sei entweder Kitsch oder Avantgarde – im Popgeschäft trifft sie wie die berühmte Faust aufs Auge, obwohl wir in Zeiten von Kitsch as Kitsch can Letzteren (Kitsch) gerne durch Kommerz ersetzen würden. Ist das nicht eigentlich die wahre Cancel Culture? [um]

 

Schon mal vom Millenial Whoop gehört? Aber gehört haben sie ihn sicherlich: Eine einfache musikalische Figur, die in unzähligen Popsongs der letzten Jahre verbraten wurde – mit maximalem Wiedererkennungswert. Der Blogger Patrick Metzger hat den Begriff erfunden und gibt uns in seinem TED-Talk einen heiteren und politisch hellsichtigen Einblick in die Untiefen des Popbusiness.

 
 
 
Zwischen allen (Web-)Stühlen bewegt sich Faig Ahmeds aus Baku – traditionelle Formen werden verzerrt, aufgebrochen, bewegt. Und so zu neuen Geschichten verwoben – in denen traditionelles Handwerk, Metaphysik und Kunst im Zusammenspiel über sich hinauswachsen. Untergründig hinterfragen seine Arbeiten auch den Wert der Dinge – und der Disziplinen.

Echt jetzt?
 

Vor zwei Jahren soll der saudische Prinz Mohammed bin Salman das Christus-Portrait Salvator Mundi bei Christie’s in New York für 450 Millionen Dollar ersteigert haben. Damit ist es das teuerste Kunstwerk der Welt. Ob es allerdings wirklich von Leonardo da Vinci stammt, ist bis heute nicht zweifelsfrei belegt. Das teuerste Kunstwerk, das jemals von einem noch lebenden Künstler verkauft wurde, heißt übrigens Ballon Dog (Orange) vom Pop-Kitsch-Porno-Papst Jeff Koons (58,4 Millionen Dollar). »Ich wollte ein Werk schaffen, das jeden anspricht«, sagt er mit gepflegtem Lächeln und ebensolchem Haarschnitt. »Ich versuche, den Menschen den wahren visuellen Luxus zu zeigen. Es ist visuell berauschend.« Kitsch lügt? Kitsch verblödet? Kitsch ist längst in der Avantgarde angelangt. Wer angesichts enormer Preise das Aufflackern von Dagobert-Duck-artigen Dollarzeichen bei sich bemerkt, der komme vom Träumen ins Tun – selbst wenn eine Realisierung absolut unrealistisch erscheint. Der monetäre Wert eines Kunstwerks leitet sich schließlich nicht unbedingt aus sich selbst heraus ab, sondern aus seiner Resonanz am Kunstmarkt. [gw]

 

Visuell wie akustisch berauschend: Mit Barcelona realisiert Freddy Mercury 1987 mit der katalanischen Operndiva Montserrat Caballé das erste große Crossover-Projekt der Musikgeschichte. Opulent. Dramatisch. Und unbescheiden.

 
 
In ihren Skulpturen, Objekten und Fotografien dekonstruiert Monica Piloni aus Brasilien den mensch­lichen Körper – und setzt die Einzelteile neu zusammen. Dabei entstehen höchst irritierende Gebilde zwischen Leere und Sinnlichkeit – mit denen sie die traditionellen Vorstellungen der Geschlechter genauso wie die Sexualisierung und Monetarisierung des weiblichen Körpers hinterfragt.

Programmierte Realität
 

An die schlechten Witze ihres Vaters erinnert sie sich noch gut. Trotz Kindheitstrauma ist aus ihr was geworden: 2,7 Mio. Fans alleine auf Instagram. Ihr Aussehen entspricht exakt dem Kindchenschema – große Augen, Stupsnase, Schmollmund. Und als Realitätsstolperstein hat man ihr eine Mikrozahnlücke verpasst: Lil Miquela, 19, Influencerin. Vertrauenswürdigkeit und konsistentes Verhalten machen sie so erfolgreich. Konsistent ist sie absolut! In der Werbebranche greift man gern auf sie zurück, weil sie zwar nicht billiger, aber williger ist als ihre Kolleginnen. Und vertrauenswürdig? Sowieso. In der Social-Media-Welt ist sie der Inbegriff von Authentizität: Lil ist Avatar.

Echtheit ist also immer eine Frage der Perspektive und wer von Lil enttäuscht ist, weil sie eine Täuschung ist, der täuscht sich. Schon der Psychologe Roger Shepard hat Wahrnehmung als »von außen geleitete Halluzination« enttarnt: Schließlich füttert uns die Außenwelt mit Daten, die wir im Mix mit Erfahrung und Emotion in unsere Wirklichkeit verwandeln. Ist menschliche Realität nicht auch nur ein Programm? Zumindest weiß man längst, dass Menschen Falschinformationen, mit denen man sie bei Experimenten füttert, später in ihre eigenen Erinnerungen einbauen und dass Erinnerung durch Suggestion formbar ist. Offensichtlich ist unser Gehirn derart auf Verstehen programmiert, dass es versucht, allem einen Sinn zu geben. Typisches Beispiel: optische Täuschungen. Oder die Optical Art genannten geometrischen Abstraktionen in der Kunst, die den Betrachter bewusst verwirren. Unser Gehirn findet immer eine Lösung. Ob es die richtige ist, ist eine Frage der Betrachtung. Kein Witz! [sib]

 

Tauschen und Täuschen haben denselben Wortstamm: mhd. tüschen (betrügen). Und dabei scheint doch der Tauschwert heute dank Preisetikett so objektivierbar zu sein. Nur gibt es auch einen subjektiven Tauschwert, der den Wert eines Gutes an seiner Zielerreichungspotenz misst. Hier ergibt sich der Preis aus der subjektiven Einschätzung des Nachfragers. Und je nach wirtschaftlicher Situation wird die Entscheidung, was gerade am meisten nutzt, anders ausfallen. Und oft auch enttäuschend …

 
 

Wenn die Authentizität zu weit geht: Als Calvin Klein sein Model Bella Hadid den Avatar Lil Maquela küssen lässt hagelt es (einkalkulierte?) Kritik


»Wenn es aber einen Wirklichkeitssinn gibt …«
 
 

Abwertend weisen Begriffe wie Hirngespinst oder Luftschloss auf die Unmöglichkeit hin, eine Sehnsucht, einen Traum zu verwirklichen. Unsere vermessene, entzauberte Welt lehnt als nutz- und sinnlos ab, was eine große Entfaltungskraft in sich trägt. Wer will den Träumen eines neunjährigen Kindes glauben? Felix Finkbeiner hat sich vorgenommen 1.000 Milliarden Bäume zu pflanzen. Bis 2030. 2007 setzt er seinen ersten Baum. 2011 stellt er sein Wiederaufforstungsprogramm Plant-for-the-Planet den Vereinten Nationen vor. In dieser Woche sind bereits 13,48 Milliarden Bäume gepflanzt.

Anderes Beispiel: Laut WHO brauchen 950 Millionen Menschen weltweit eine Brille, viele, gerade in Entwicklungsländern, können sich aber keine leisten. Die Konsequenzen sind bitter: Betroffene Kinder können dem Schulunterricht nur schwer folgen. Erwachsene finden kaum Arbeit. Martin Aufmuth erfindet die Ein-Dollar-Brille, eine Art Werkzeugkasten, mit dem sich eine einfache Brille herstellen lässt. Dazu gibt es Ausbildungsprogramme zur Durchführung von Sehtests und zum Biegen von Brillengestellen. Über 260.000 Menschen konnten seit Gründung des Vereins 2012 mit einer Brille versorgt werden.

Oder: Es ist der 20. August 2018, als die damals 15-jährige Greta Thunberg erstmals den Schulbesuch verweigert, um vor dem schwedischen Reichstag für den Klimaschutz zu protestieren. Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen. Träumen weckt auf. Oder, um Robert Musil zu zitieren: »Wenn es aber einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben.« [gw]


 

Kleines Lexikon: Wandel der Moden und des Designs

 
Memphis Blues

Design bedeutet in Italien ganz wesentlich Lebensfreude und dazu gehört neben eleganter Leichtigkeit immer auch eine gute Portion Witz und rebellische Intelligenz. Vor 40 Jahren erschütterte eine Revolution die Designszene, genannt Memphis. Angeblich, weil während der Gründung Dylans Stuck Inside of Mobile with the Memphis Blues Again lief – se non è vero, è ben trovato. Initiator Ettore Sottsass, bekannt durch seine unorthodoxen Entwürfe für Olivetti, wie die knallrote Schreibmaschine Valentine, hatte bereits mit Co-Gründer Michele de Lucchi im Studio Alchimia den Gegenentwurf zum rein Auftraggeber-bestimmten Design verfolgt. Die Memphis-Produkte waren quietschbunt und überhaupt nicht funktional. Die Reduktion auf Würfel, Kugel, Pyramide und kräftige Farben war ebenso typisches Markenzeichen wie die Irritation der Betrachter. 1988 war Schluss, längst war der Stil von Epigonen okkupiert – und von eben jenen marketingsüchtigen Auftraggebern, gegen die Memphis angetreten war.  [hel]

 

Das Fundstück der Woche

 
 
Mal eben so alle Ebenen durcheinanderbringen: Die Modefirma Balenciaga zieht ihre sauteuren Stiefel abgebrochenen Stühlen an, der Stuhl wird zur Figur und das Leben zur (Instagram-)Farce ...

 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sha], Herbert Lechner [hel], Nina Shell [nsh], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Teppich - Faig Ahmed
Kunst Puppen - Monica Piloni
Lil Miquela - Brud

Das Fundstück der Woche:
©BALENCIAGA


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