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ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 9. Oktober 2020

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

kommen Sie da vielleicht auch gerne durcheinander – so wie ich? Wenn ich negativ bin, ist das positiv für andere. Also: Mit einem negativen Testergebnis dürfte ich weiterhin aus Hochrisikogebieten wie Berlin-Mitte oder Spanien in Bayern beherbergt werden, ist also positiv fürs Hotel. Und für mich auch. Wobei, um es nicht zu einfach zu machen, auch zu beachten ist, dass »infiziert nicht immer infektiös ist – und Test nicht gleich Test«, wie unter der Überschrift Die großen Fragen unserer Zeit der mdr schreibt. Hinsichtlich der großen Fragen treiben mich allerdings eher einige andere um, habe ich mich in dieser Woche doch noch einmal mit dem 2016 erschienenen, auch zum Teil sehr kritisch gesehenen Werk Die Austreibung des Anderen von Byung-Chul Han beschäftigt. Darin geht es um Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute und um das Positive an der Negativität des Anderen. »Aus der heutigen Wahrnehmung und Kommunikation verschwindet immer mehr das Gegenüber als Gegenwart des Anderen. Das Gegenüber verkommt immer mehr zum Spiegel, in dem man sich bespiegelt. Die ganze Aufmerksamkeit gilt dem Ego.«

Nun hatten wir in den ersten Wochen der Pandemie durchaus große Solidaritätsbekundungen und -gefühle, die das Trendinstitut bis heute dazu veranlassen, die Zukunft eher rosig zu sehen. Andere (!) folgen eher dem pessimistischen Philosophen aus Berlin – zum Beispiel ob der kommunikativen Macht der (sozialen) Medien: »Der Terror des Gleichen erfasst heute alle Lebensbereiche. Man fährt überall hin, ohne eine Erfahrung zu machen. Man nimmt Kenntnis von allem, ohne zu einer Erkenntnis zu gelangen. (...) Man giert nach Erlebnissen und Erregungen, in denen man aber sich immer gleich bleibt. Man akkumuliert Friends und Follower, ohne je einem Anderen zu begegnen.«

Ist – wie gesagt – von 2016. Ich frage mich, ob sich nach der gesamtgesellschaftlichen Pandemieerfahrung sein »Das Gefällt-mir ist die absolute Schwundstufe der Wahrnehmung« noch gilt? Was meinen Sie?

Neugierige Grüße zum Wochenende
Boris Kochan

 

Im Funkverkehr steht positiv für eine Bejahung, in der Mathematik für eine Eigenschaft und in Byung-Chul Hans Die Austreibung des Anderen wird positiv negativ: »Die Zeit, in der es den Anderen gab, ist vorbei. Der Andere als Geheimnis, der Andere als Verführung, der Andere als Eros, der Andere als Begehren, der Andere als Hölle, der Andere als Schmerz verschwindet. Die Negativität des Anderen weicht heute der Positivität des Gleichen.«


Nur hören
 

Ein Freund, der vor vielen Jahren bereit war, sich auf die Geheimnisse der Neuen Musik einzulassen, saß bisweilen vor einem Transistorradio, drehte an Knöpfen, verstellte Sender und gab sich mit verklärtem Gesichtsausdruck dem schrillen Pfeifen, Quietschen und dumpfen Brummen hin. Nur hören. Sound oder Lärm? Wilhelm Busch sagte einmal: »Musik wird oft als Krach empfunden, weil sie mit Geräusch verbunden.« Gilt auch die Umkehrung? Krach wird wie Musik empfunden, ist er doch mit Klang verbunden.

 
 

Wer derzeit den Hunger auf kulturelle Highlights verspürt, findet zu jeder Stunde und überall die Einladung zu einer Wanderung durch eine einzigartige Klanglandschaft. Ausschließlich Premieren! Etwa am Münchner Romanplatz. Die besten Plätze: in den Straßenbahn-Wartezonen. Augen auf unscharf stellen, Fühlung aufnehmen. Das Leitmotiv liefern die Ampeln mit ihrem regelmäßigen Rhythmus: das Bremsen und Anfahren der Wagenkolonnen, darüber das trockene Klackern des Sehbehindertensignals. Absätze reiben und schlagen auf Gehwegplatten, Wortfetzen verweben sich mit dem Knirschen der Straßenbahn. Tür auf, Tür zu. Ins Schrittgedrängel bohrt sich ein Martinshorn. [gw]

 

Dass es möglich ist, ein und dasselbe Glas als halb voll oder halb leer zu beschreiben, zeigt, dass wir nicht nur mit Augen und Gehirn sehen. Auch der Bauch schaut mit. Unsere individuelle Lebenserfahrung will mitsprechen wie unser subjektiver Blick auf die Welt. Gemeinhin gelten die Halbleer-Glas-Seher als Pessimisten, während den Halbvoll-Glas-Sehern eine optimistische Grundstimmung zugesprochen wird. Zudem gibt es noch eine dritte Sichtweise, die man in Bayern Gscheidhaferl-Optimismus nennt … das Glas ist komplett voll: zur Hälfte mit Wein und zur anderen Hälfte mit Luft.

 
 
 
Der oben beschriebene Münchner Romanplatz unweit des Nymphenburger Schlosses hat eine lange Geschichte als Verkehrswüste – und auch jetzt, nach einer kompletten Umgestaltung, sind die Spuren vergangener territorialer Ordnungen überall wahrnehmbar. Michael G. Esch und Béatrice von Hirschhausen nennen diese Spuren in ihrem Buch Wahrnehmen – Erfahren – Gestalten Phantomgrenzen. Das mittlerweile abgerissene Stationshäuschen (hier auf einem Bild aus dem Jahr 1960) lebt als leere Merkstelle in der Mitte der Trambahnschleife weiter ...

Ich sehe was, was du nicht siehst …
 

und das ist: ––––? Würde dieses Kinderspiel auf einer grünen Wiese stattfinden, auf der eine einzige Mohnblume stünde und der Hinweis rot lauten, wäre es ganz schnell vorbei. Viel besser wäre zum Beispiel rund, um die erwartungsvollen Mitspieler·innen maximal aufs Glatteis zu führen. Jetzt schalten die Gehirne auf Volllast, alles wird mit jedem verglichen, spekuliert, fantasiert – und die Antwort ist: … natürlich falsch.

Genau so könnte eine deutlich verkürzte Veranschaulichung ausgerechnet der Begriffsgeschichte des Wortes Wahn aussehen, wie die Gebrüder Grimm sie einst in ihrem Deutschen Wörterbuch aufgeschrieben haben. Dort haben die beiden, die keineswegs nette Märchenonkel waren, sondern gestandene Wissenschaftler, den überraschenden Weg des Wahns von der Erwartung zur Vermutung – und schließlich zur Einbildung nachgezeichnet. Unterwegs sind dem Wahn darüber nicht nur Witz und Sinn, sondern auch noch eine gute Portion Zauber abhanden gekommen. Jüngere Sprachforscher haben nämlich im indogermanischen wen eine Verbindung zur Venus ausgemacht und messerscharf gefolgert, dass Wahn und Liebe irgendwann mal etwas miteinander zu tun gehabt haben müssen. Wer hätte das gedacht?

Der lieb- und mithin trostlose Wahn modernen Zuschnitts ist entweder medizinisch stigmatisiert oder zu Verschwörungstheorien und Fake News verkommen. Bloßer Schatten seiner selbst, scheint seine spielerische Fähigkeit neutralisiert, dem, was für wahr genommen wird, noch eine unerwartete Facette hinzuzufügen oder ein Krönchen aufzusetzen (auch wenn es nur aus Schaum ist) und darin tröstlich aufzuzeigen: Es ist alles nur ein Spiel, bei dem die Wahrnehmung der Wirklichkeit (oder sie selbst?) ein bisschen ver-rückt wird. Jetzt aber wird Ernst gemacht: Die gegenwärtigen Diskurse erscheinen zunehmend entweder frostig zahlenbewehrt oder größenwahnsinnig überhitzt oder beides – das aber gerne bis an die Zähne bewaffnet. Da möchte man in Anlehnung an Oskar-Maria Graf ausrufen: »Mehr guter alter Wahn, die Herrschaften!« [um]

 

Nur schauen
 

In der Wüste von Arizona entdeckt der Lichtkünstler James Turell einen 150 Meter hohen, erloschenen Vulkan. 1974 kauft er das Gebiet, das er Roden Crater nennt. Hier soll ein Himmelsobservatorium entstehen – ein lebenslanges Projekt. Über Jahrzehnte wächst ein System aus unterirdischen Räumen, Hallen, Schächten und Stollen. Sie alle öffnen sich zum Himmel. Das Sonnenlicht stürzt ins Dunkel, das Dämmerlicht sickert hinunter, es leuchtet das tiefe Blau des Nachthimmels über der Wüste. »Ich bildete einen Innenraum, der ein Gefühl vermitteln soll für das, was im Außenraum vorgeht – einen Raum der Wahrnehmung«, sagt Turell. Seine Kunst bezeichnet er selbst als Perceptual Art, als Kunst der Wahrnehmung. Schauen, tief schauen. Nichts als schauen. [gw]

 
 
 

Den Himmel aus der Perspektive des Vulkans als Scheibe sehen. Das Sonnen- und Mondlicht wirft das Bild in den Raum – der Schatten wird zum weißen Kreis. Wahrnehmung ver-(w)irrt.


 

Kleines Lexikon: Wandel der Moden und des Designs

 
Nierenversagen?

Der Kühlergrill ist seit jeher das hervorstechendste Merkmal des Automobils. Mal v-förmig wie eine Pfeilspitze (Vauxhall Prince Henry), mal massiv wie ein Scheunentor (Rolls-Royce) – zur bloßen Funktion kam schnell die Markenidentität. Doch Pontonkarosserie und cw-Wert machten die Front zunehmend flacher. Ein Problem für ein so schlankes, hohes Symbol wie die BMW-Niere. Denn was bei den Vorkriegsklassikern 327 und 328 und auch noch beim Barockengel 502 perfekt funktionierte, hatte bei der Linie der Vernunft Platznot – mit jeder Modellreihe wird die Niere breiter … Anders als der mächtige Stuttgarter Konkurrent, der für solche Fälle zum Rennsport-etablierten reinen Stern zurückgreifen konnte, scheuen die Münchner bisher den Verzicht. Nicht ohne Ironie, dass deshalb selbst die weißblauen E-Mobile Niere tragen. [hel]

 

 

13. Oktober 2020 Black Box/Gasteig, München

tgm-Vortrag Viola Reise:
Who is the killer in the thriller?


Was ist eigentlich besonders? An Dir, an mir, an uns? Warum ist es so entscheidend, dass wir uns entscheiden – wer wir sind und was wir wollen? Fragen, mit denen sich Gestalter aller Art stets beschäftigen sollten. Und natürlich insbesondere, wenn sie markenbildend für ein Unternehmen oder eine Organisation arbeiten. Denn das Eigene – der Unterschied – ist das, um was es geht. Und die Geschichten, die sich dazu erzählen lassen. Viola Reise gibt in ihrem Vortrag Reiseeinblicke in ihr ganz persönliches Werden, die großen Fragen rund um das Vorgegebene und das Unerwartete – und den Prozess, wie man in all dem Chaos dann doch höchst effizient als Designer Branding erfolgreich macht. Das dann auch noch verdammt gut aussieht …

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20. November 2020

TypeTech
MeetUp Munich
goes digital


Endlich ein Ort, an dem sich Schriftingenieure und -designer, Webdesigner und -entwickler zu den vielfältigen technischen Themen austauschen und so gemeinsam eine besser gestaltete Zukunft entwickeln können. Das TypeTech MeetUp versteht sich als offenes Forum – und wird nun auch ins Digitale verlegt. Statt der ursprünglich für März 2020 geplanten Veranstaltung wird es vier Onlineabende in loser Folge geben: den ersten am 20. November 2020 mit dem Themenschwerpunkt UI/UX. Unter anderem mit zwei Impulsvorträgen von Frank Rausch und Claudia S. Friedrich. Organisiert wird die Reihe von der GRANSHAN Foundation mit der Unterstützung von Google und vielen weiteren Partnern.


Das Fundstück der Woche

 
 
Für Herbert Achternbusch ist Heimat nicht Ort, sondern Zustand: »Diese Gegend hat mich kaputt gemacht, und ich bleibe so lange, bis man ihr das anmerkt.« Der Verleger, Intim-DJ Cpt. Schneider und Grafiker Hias Schaschko bringt das valentineske Selbstverständnis des bayerischen Universalgenies auf Postkarten: Alle wollen immer von allen verstanden werden, Achternbusch reicht es dagegen schon, wenn ihn niemand versteht. Das Andere, das Positive gefährdet erfolgreich die Welt und schärft die Wahrnehmung.

 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sha], Herbert Lechner [hel], Nina Shell [nsh], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Romanplatz 1960, Foto aus dem Archiv von FMTM

Crater's Eye - James Turell - Foto: Florian Holzherr
Fundstück der Woche:
Postkarte fotografiert und gestaltet von Hias Schaschko, Text von Herbert Achternbusch


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