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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 2. Oktober 2020

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

zugewandt und engagiert, ernsthaft interessiert und detailliert informiert, pragmatisch und pointiert – so habe ich letzte Woche die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, während eines Besuchs des Deutschen Kulturrats erlebt. Und in diesen Tagen wieder aus der Ferne, am Bildschirm, als sie im Bundestag bei der ersten Lesung des Kulturetats 2021 die beabsichtigte Erhöhung von über 6% routiniert und eindringlich verteidigte. Was für ein Unterschied! Hier eine spitze Bemerkung zum Abgeordneten X, dort eine Floskel, alles sehr im klassischen Debattenstil – und eher auf Auseinandersetzung denn Konsens gebürstet.

Manchmal frage ich mich, ob es das ganze Theater, die Eskalation auf der großen (Bundestags-)Bühne wirklich braucht? Immer wieder mal erlebe ich diese große Diskrepanz zwischen Politikern im persönlichen Umgang und dem großen Schauspiel in den Medien. Wie viel Maske braucht es? Wie viel Tiefe ist eigentlich (noch) möglich in der Öffentlichkeit? Wie viele Fragen, wie viele kleine Fehler sind erlaubt? Ab wann ist das Ganze dann eigentlich Fake?

Eigentlich gäbe es ja diejenigen, die für die Zuspitzung genauso wie das Absurde, die Farce und den Fake zuständig sind in einer Gesellschaft – nur dürfen diese noch immer nicht oder nur sehr reduziert arbeiten … trotz des NEUSTART KULTUR Investitionsprogramms von Monika Grütters. Nicht nur ich habe große Sehnsucht nach dieser anderen Wirklichkeit, die den Blick wieder frei macht für das Neue, das Wesentliche. Und so viel gute Laune machen kann – dringend Zeit für eine kleine theatrale Ausgabe von 8daw!

Ich wünsche ein phantastisches Wochenende!
Boris Kochan


Das Drama mit den Regeln
 

Re|gel|dra|ma, das: Substantiv, neutrum – Tragödie, die sich um die Reglementierung der Hygienemaßnahmen in deutschen Theatern abspielt. Nein, Entschuldigung, das war ein Fake. Die Dramenform geht wohl auf Aristoteles zurück, der mit seiner Regelpoetik die Dichtkunst formal in ein Unisono aus Zeit, Ort und Handlung zwängt und das Theater auf das Nachahmungsprinzip reduziert – ein Schema, das im Barockzeitalter perfektioniert wurde.

Schlimme Zeiten, als die Theaterstücke strikten Regeln folgten. Aber inzwischen ist es gar das Theater selbst. Wer nicht dicht machen muss, verhängt Maskenzwang und Abstandsregeln fürs Publikum und mutet seinen Protagonisten zu, vor halbleeren Sitzreihen zu spielen. Programm und Inszenierung – pandemieverträglich. Was bleibt da von stürmend-drängender Genieästhetik? Am Ende – siehe Staatsschauspiel Dresden: Der nackte Wahnsinn + X. Das X drückt der Komödie den pathetischen Stempel des skandalerprobten Regisseurs Sebastian Hartmann auf, den die Kritik als Stückezertrümmerer bezeichnet, der hier eine Nummernrevue mit Abstandschoreografie aufführe.

Aber schauen wir mal, ob denn ein echtes Rokoko-Theater heute noch den Geist barocker Regelpoetik atmet? Der Spielplan des Cuvilliéstheaters, einer der drei Spielstätten des Münchner Residenztheaters, ist ... leer. Stattdessen kommt die Bühne ins Wohnzimmer: 50 Mal Lenz – ein Versuch. Eine Aufführung auf Zoom. Ich habe mühelos eine von je abendlicher Videokonferenz nur fünf verfügbaren Tickets erstanden. Das Publikum hält Abstand zu Experimenten. [sib]

 

Hat Büchner, auf den das Theaterstück 50 Mal Lenz zurückgeht, das Nachahmen zu Ernst genommen? Jedenfalls hat man ihm bei seiner Novelle über den schizophrenen Schriftsteller Lenz Plagiat vorgeworfen. Andererseits gilt der Autor mit seinem Fundamentalrealismus auch als radikaler Vertreter des aristotelischen Begriffs der Mimesis, also der Fähigkeit, im Schauspiel das Leben so realistisch nachzuahmen, dass es den Zuschauer zum Er-leben zwingt.

 
 
 
Verstrickt in Schein und Sein, die Ebenen und Perspektiven verschieben sich laufend im Theater als Spiegel der Pandemie – Luise Aschenbrenner als Teil des nackten Wahnsinns am Staatsschauspiel Dresden. Aus Dialogen werden Monologe, die Darsteller sind vereinzelt und proben jeweils für sich ein Stück, das nur in ihrem Kopf existiert. Die FAZ-Rezensentin Irene Bazinger nennt das einen »Regie-Hackbraten«.

»Wer aber sind sie, sag mir ...«
 

Gleichform der Stunden, Tage, Wochen. Wo ist der Raum für Erdbeben, für die erhabene oder verstörende Empfindung, die unverschämte Provokation, den plötzlichen Aufschrei, den groben Lachanfall?

Die Sehnsucht, sich aus dem Alltag zu schälen, sich aufzurichten – wenigstens für ein paar Augenblicke oder Stunden –, scheint dem Menschen eingewoben zu sein. Das Leben ist ein Fest! Ein Abenteuer, eine Katastrophe, ein Gebet. Schon im alten Ägypten wird der Osiris-Mythos pantomimisch dargestellt. Dionysos, der Gott des Weins, der Freude und der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase, verhilft dem abendländischen Theater in Griechenland im fünften Jahrhundert vor Christus zur ersten großen Blüte. Ein einfacher, freier Platz genügt, manchmal gepflastert, öfter aus Lehm gestampft. Auf ihm schreiten die Chöre hin, die Maskenträger, die Tänzer. Die Zuschauer sitzen an nahen Hängen oder auf hölzernen Estraden, leben, leiden, fiebern mit. Ins Kultische kreuzt sich der Spieltrieb der Gaukler und Taschenspieler ein, der Fahrenden nach Rainer Maria Rilke, »diese ein wenig Flüchtigeren noch als wir selbst«. Dann ziehen die Figuren der Commedia dell’arte auf, Dottore, Colombina, Arleccino … meine Rolle – deine Rolle. Lass sie uns tauschen, mischen, verbinden. Komödie, Tragödie und Dada, Singspiele mit der großen Oper, Sprache und Tanz, die prächtigen oder spröden Kostüme, Bühnenbilder, Lichter, Geräusche. Das Räuspern im Parkett. Vieles kommt zusammen.

Zum Beispiel im kleinen Bonner Theater im Ballsaal bei der Multimedia-Performance Voyance Hellsehen. Die Poesie Arthur Rimbauds, die Rimbaud-Kommentare von Patti Smith, die Jazzsängerin und Kontrabassistin Fuensanta Méndez und das Spiel von Bettina Marugg. Klang, Licht, Sprache – wie in Rilkes fünfter Elegie »aus geölter / glatterer Luft kommen sie nieder / auf dem verzehrten, von ihrem ewigen / Aufsprung dünneren Teppich / diesem verlorenen Teppich im Weltall«. [gw]

 
Gymnopédies sind feierliche Schreittänze. Sie wurden an hohen Feiertagen von unbewaffneten jungen Männern im alten Sparta zu Ehren Apolls getanzt. Eric Satie schreibt das Gymnopédie No. 1 im ¾-Takt, in der Art eines langsamen Walzers, und überschreibt es: lent et douloureux – langsam und schmerzlich.
 

Theater in der Welt
 

In einem Artikel über Matthias Lilienthals erste Spielzeit an den Münchner Kammerspielen sprach ausgerechnet die Bayerische Staatszeitung, die nicht gerade für einen überbordend experimentierfreudigen Kunstsinn berühmt ist, von »gediegen-arriviertem Avantgarde-Theater«. Gediegene Avantgarde? Was für ein Widerspruch in sich! Und doch ist hier das ganze Dilemma der Avantgarde auf den Punkt gebracht: Sie ist in die Jahre gekommen, vielfach zum bloßen Gestus erstarrt. Was bleibt also noch, nachdem alles und jedes auf seine Tauglichkeit zum künstlerischen Material überprüft und heilige Kühe gleich in Scharen vertrieben wurden? Vielleicht beharrlich »die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen«, wie Lilienthals Nachfolgerin Barbara Mundel jetzt als Motto für ihre erste Spielzeit ausgerufen hat. Das klingt nach Welthaltigkeit, nach postdramatischem Theater und nach Elfriede Jelineks Verlangen nach einer »schnellen Theater-Eingreiftruppe«, die unmittelbar auf die Gegenwart reagiert. Und das klingt nach Besinnung auf gute alte Theatertugenden. Wir wollen jetzt nicht gleich mit Schillers moralischer Anstalt drohen, aber vielleicht lugt hier doch noch ein bisschen Brecht um die Ecke, dessen Karriere just an diesem Haus begann?

Freilich haben sich die Parameter gesellschaftlichen Seins seither massiv verschoben. Aber gerade in einer medial vermittelten Welt, die zunehmend pseudo-theatral überwölbt ist, kann Theater die letzte Bastion der Unmittelbarkeit sein. Ohne Blockbuster-Kulissenzauber, sondern mit dem Gespür für die Welt dahinter. Wer jetzt an sprödes Welterklärungstheater denkt, sei an Jelineks schrille und durchaus umstrittene Tragikomödie Die Straße. Die Stadt. Der Überfall erinnert, die sie den Kammerspielen zum hundertsten Geburtstag geschenkt hat. Ein irrwitzig-verdrehtes und streckenweise urkomisches Meisterstück. Jetzt aber warten wir gespannt darauf, dass sich der Vorhang für Barbara Mundels Theatervisionen öffnet, und sagen auch Corona-verstört mit Brecht: »Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.« [um]

 
 
 

Ein glitzerndes Fluidum, durch das dann noch ein paar Worte der Wut geistern – Sandra Hüller, Hans Kremer, Stephan Bissmeier, Marc Benjamin in Johan Simons Jelinek-Inszenierung Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. anlässlich 100 Jahre Kammerspiele.


 

Kleines Lexikon: Wandel der Moden und des Designs

 
Durchschaut

Während der chinesischen Ming- und frühen Qing-Dynastie (13. bis 17. Jh.) dienten kleine nackte Figuren zur Diagnose, da sich für Damen der Oberschicht nicht ziemte, sich vor dem Arzt zu entblößen. Zu Hause wurden die schmerzenden Bereiche markiert, das Püppchen dann per Bote in die Praxis geschickt – eine frühe Form der Telemedizin. Aber auch im alten Europa konnten meist erst die Pathologen die Ursachen der Beschwerden klären. Bis Wilhelm Conrad Röntgen die X-Strahlen entdeckte, mit deren Hilfe sich der Patient durchschauen ließ. Eine heilsame Revolution, die in der Folge stetig weiterentwickelt wurde. Sonografie und Endoskopie kamen dazu, dann der nächste große Schritt: die Computertomografie (CT) und die Magnetresonanztomografie (MRT), mit denen sich der Körper virtuell in Scheiben schneiden ließ. Heute ermöglichen die Fortschritte der bildgebenden Verfahren farbige Dreidimensionalität, sogar Bewegung. Ein wahrhaft lebensrettender Designwandel. [hel]

 

Das Fundstück der Woche

 
 
Alles verhüllt im schon immer dem Untergang geweihten Venedig: Mund und Nase, Hände und natürlich Mortadella. Markus Kirchgessners nur scheinbar beiläufige Fotografien alltäglicher Orte und Situationen irritieren untergründig: 100 Gramm Maske bitte!

 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sha], Herbert Lechner [hel], Nina Shell [nsh], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Staatsschauspiel Dresden Foto: Sebastian Hoppe // ©Staatsschauspiel Dresden
Kammerspiele München Foto: ©Julian Röder
Das Fundstück der Woche:
©Markus Kirchgessner // markuskirchgessner.de


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