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ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 1. April 2021

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

»Fakten, Fakten, Fakten« forderte er gern nachdrücklich in Werbespots – dabei ging es im von Helmut Markwort 1993 erfundenen Magazin Focus ausgesprochen bunt, einfältig und oberflächlich zu. Die Aufmachung sei beim SPIEGEL-Konkurrenten wichtiger als der Inhalt – wie DIE ZEIT kritisch anmerkte: »Analysen werden zu Hitparaden. Im Vordergrund steht der Verkauf, nicht der Inhalt. Mit einem Nachrichtenmagazin hat das wenig zu tun.« Lese(r)freundlicher Nutzwertjournalismus traf allerdings den Zeitgeist, den Markwort erkannt und wirtschaftlich sehr erfolgreich etabliert hat. Und der dann nach und nach in die Redaktionen aller großen Publikumsmagazine einzog – inklusive SPIEGEL und ZEIT.

Mittlerweile tun sich Fakten ausgesprochen schwer und sogar die hinterfotzigen Späße des 1. April als wohl schon im 15. Jahrhundert in Augsburg erfundene Frühform der Fake News sind von der (gefühlten) Realität überholt und von (super realen) Memes überhöht worden. Keine fliegenden Pinguine mehr – dafür wird das Publikum im pandemischen Zeitalter mit einem im Suezkanal quer liegenden Frachter zerstreut. Ob jetzt wirklich der Vollmond die Befreiung ermöglichte … oder doch ganz profan Bagger und Schlepper? Oder alles zusammen?
          Die Nachrichtensituation ist allgemein genauso unübersichtlich wie der aktuelle Stand der pandemiebedingten Richtlinien zu Ostern. Leider befördert diese Gemengelage das Abdriften von immer mehr Menschen in Wahnwelten – auch erstaunlich gebildeten. Und sind sie dort erst einmal angekommen, findet sich nur schwerlich ein Weg hinaus, wie der Sozialpsychologe Harald Welzer in der taz schreibt: »Wenn Menschen Situationen für real halten, dann sind diese in ihren Folgen real.« Denn: »Eine Wirklichkeitswahrnehmung kann so irre sein, wie man es sich nur vorstellen kann – wenn Menschen auf der Grundlage einer solchen Wahrnehmung handeln, schafft dieses Handeln nichtsdestoweniger Wirklichkeit.«

Ich wünsche Ihnen zum langen Osterwochenende trotz allemeinen entspannten Blick auf die wirkliche Wirklichkeit!
Boris Kochan

 

Ulf Poschardt, seines Zeichens Chefredakteur der WELT, mit seiner Version des Aprilscherzes auf Twitter: »Entscheidendes Kontinuum aber ist die Seele der WELT. Diese Zeitung war und ist und bleibt die Zeitung der Andersdenkenden. Das Forum der freien und frechen Gedanken. Das Leitmedium der Freiheit.«

 

Der chinesische Performancekünstler Liu Bolin schickt die Betrachter·innen seiner Bilder nicht in den April, sondern ins Ungewisse, in ein Dazwischen. Das Verschmelzen mit dem Hintergrund, das (fast vollständige) Auflösen des Selbst im sehr konkreten Hier und Jetzt ist seine Antwort auf die Probleme dieser Welt – die ursprünglich als Protest gegen die Zerstörung des Pekinger Künstlerdorfes Suo Jia Cun im November 2005 durch die Kommunistische Partei Chinas begann. »Mit dem Verschwinden möchte ich das widersprüchliche Verhältnis zwischen unserer Zivilisation und der persönlichen Entwicklung darstellen«, sagt Liu Bolin in einem TED-Talk. Das Verschwinden ist dabei nicht der wichtigste Aspekt – »es ist nur die Methode, mit der ich meine Botschaft weitergebe … es ist meine Art, meine ganzen Sorgen um die Menschen zu vermitteln.« Übrigens: Seine Arbeiten entstehen natürlich ohne die digitale Unterstützung von Photoshop und Co.


 

Gute Aussichten
 

Wo Kälte und Hitze, Winter und Sommer aufeinandertreffen, sind Turbulenzen vorprogrammiert. Glänzende Milde, Sonnenschein, dann hagelt’s wieder mittendrein. Gegen die Unberechenbarkeit der Natur stemmt sich der schlaue Bauer durch die genaue Beobachtung ebendieser. Fliegen die Schwalben hoch? Schließen sich die Blüten der Silberdistel? Kriecht der Regenwurm aus der Erde? Muss das Heu eingefahren werden? Fällt das lange geplante Picknick ins Wasser? Für üblere meteorologische Überraschungen hat die kluge Bäuerin stets eine (geweihte) Wetterkerze zur Hand, um Haus, Hof, Mensch und Vieh vor dem Zugriff der jaulenden, jagenden, zerstörerischen Gewitterhexen zu schützen. Für ein Geringes sind sie, die schwarzen Kerzen, bis heute noch käuflich zu erwerben, etwa an Wallfahrtsorten oder im Internet. Noch günstiger geht’s mit ein paar Hauswurzpflanzen auf dem Dach oder dem Ausräuchern von Haus und Hof etwa mit Johanniskraut, Beifuß, Königskerze, Brennnessel und Holunder.

Übrigens prognostiziert der Hundertjährige Kalender für die nächsten Tage (1. bis 4. April) sehr kaltes Wetter und am 5. April einen schönen warmen Tag. Wer eine Silberdistel im Vorgarten hat, könnte diese Vorhersage mit einem Blick aus dem Fenster überprüfen. Die klettererfahrene Veronika Burian, gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner José Scaglione Designerin unserer Überschriften-Type Tablet Gothic, empfiehlt hingegen, die Wetterlage vor dem Ostereiersuchen auf windy.com im Auge zu behalten. Also dann:  Try Hard Face! [gw]

 

Als Otfried Preußler 1957 das hinreißende Kinderbuch Die kleine Hexe schreibt, gibt es noch keine Debatten über politisch korrekte Sprache. In der Neuauflage 2013 verwandeln sich nach hitzigen Diskussionen die beiden Negerlein in Messerwerfer. Die Wetterhexe Muhme Rumpelpumpel heißt jetzt übrigens schlicht Tante Rumpelpumpel. Dem Charme des Kinderbuchs kann das nichts anhaben.

 

Als Aprilscherze noch nicht von der Realität (oder Fake News) überholt waren: Die BBC berichtet am 1. April 1957 von der reichen Spaghetti-Ernte im Schweizer Tessin. The Guardian veröffentlicht 1977 eine Sonderbeilage zum zehnten Geburtstag des Inselstaates San Serriffe im Indischen Ozean. Dass die Hauptstadt tatsächlich Bodoni heißt, muss alle Typografen erfreuen. Und das auf Kryptowährungen spezialisierte US-amerikanische Unternehmen CoinMarketCap führte ab dem 1. April 2020 eine vermeintlich neue Kryptowährung namens Toilet Paper Token ein.


 

Bloß keine Scherze mehr!
 

Ausgemachte Aprilscherzmuffel beobachten mit einer gewissen Genugtuung, dass der Brauch, am 1. April arglose Mitmenschen aufs Glatteis zu führen, in die Jahre zu kommen scheint. Das ist umso erfreulicher, als allem Anschein nach eine gewisse Verwahrlosung der humoristischen Befähigung mancher Mitmenschen eingekehrt ist, die in vermeintlich witziger Absicht lieber die Grenzen zur Sachbeschädigung ausloten, anstatt sich eine listige Schwindelei auszudenken – auch wenn deren Raffinesse natürlich nicht immer von erlesener Güte sein kann.

Die Humorabteilung der Münchner Polizei etwa twitterte einmal, dass man ein Pilotprojekt gestartet habe, das jedermann und -frau gestatte, Verkehrsordnungswidrigkeiten selbst zu ahnden. Entsprechende Strafzettel gebe es zum Download (inklusive gültiger Web-Adresse!). Darüber, ob die Server der Behörde dem Ansturm vermutlich Abertausender Hilfssheriffs in spe standgehalten haben, wurde sich vorsichtshalber ausgeschwiegen. Ein bisschen besser war da schon die Geschichte von der fliegenden Kuh, die ein japanisches Fischerboot versenkt habe. Anderes hingegen geht einfach nur in die Hose, wie jener Aprilscherz eines harmlosen Familienvaters, der seinen Nachwuchs mit der gefakten Spiegel-Meldung einer Verkürzung der Sommerferien veräppeln wollte. Die Meldung ging leider viral und löste zum Entsetzen des Vaters ein mittleres Nachrichtenbeben aus.
          Der technologische Wandel, er hat auch dem Aprilscherz völlig neue Dimensionen verliehen, die nicht immer unbedingt wünschenswert sind. Genau das hat 2019 ein britisches Forscherteam dazu angeregt, dem Aprilscherz und seiner Mutante, Fake News genannt, mittels künstlicher Intelligenz zu Leibe zu rücken. Die Forscher erkannten eine strukturale Ähnlichkeit mancher Aprilscherze mit Fake News und trainieren auf dieser Basis ein KI-Programm, das Letztere automatisch erkennen soll. Vertrumpt und zugenäht!, möchte man da ausrufen. [um]

 

Nachträgliche Recherchen haben ergeben, dass es sich bei der Geschichte von der fliegenden Kuh  nicht um einen Aprilscherz, sondern um eine angeblich wahre Geschichte mit allerdings wenig witzigem Hintergrund handelt. Auch wurde diese Meldung leider nicht ganz präzise an einem 1. April in Umlauf gebracht. Wir bitten dieses Versehen zu entschuldigen. Den Wahrheitsgehalt der Nachricht vom Sinneswandel des veganen Corona-Garkochs Attila Hildmann, herbeigeführt durch den versehentlichen Verzehr eines Biofleischbrötchens, das er bei der Zubereitung mit einem Soja­bratling  verwechselt haben soll, müssen wir allerdings schweren Herzens anzweifeln.


 

Alphabetdorf und Zeilengasse
 

Weit hinten, hinter den Wortbergen, fern der Länder Vokalien und Konsonantien leben die Blindtexte. Abgeschieden wohnen Sie in Buchstabhausen an der Küste des Semantik, eines großen Sprachozeans. Ein kleines Bächlein namens Duden fließt durch ihren Ort und versorgt sie mit den nötigen Regelialien. Es ist ein paradiesmatisches Land, in dem einem gebratene Satzteile in den Mund fliegen. Nicht einmal von der allmächtigen Interpunktion werden die Blindtexte beherrscht – ein geradezu unorthografisches Leben.

Eines Tages aber beschloss eine kleine Zeile Blindtext, ihr Name war Lorem Ipsum, hinaus zu gehen in die weite Grammatik. Der große Oxmox riet ihr davon ab, da es dort wimmele von bösen Kommata, wilden Fragezeichen und hinterhältigen Semikoli, doch das Blindtextchen ließ sich nicht beirren. Es packte seine sieben Versalien, schob sich sein Initial in den Gürtel und machte sich auf den Weg. Als es die ersten Hügel des Kursivgebirges erklommen hatte, warf es einen letzten Blick zurück auf die Skyline seiner Heimatstadt Buchstabhausen, die Headline von Alphabetdorf und die Subline seiner eigenen Straße, der Zeilengasse. Wehmütig lief ihm eine rethorische Frage über die Wange, dann setzte es seinen Weg fort. Unterwegs traf es eine Copy. Die Copy warnte das Blindtextchen, da, wo sie herkomme, sei sie zigmal umgeschrieben worden, und alles, was von ihrem Ursprung noch übrig sei, sei das Wort »und« und das Blindtextchen solle umkehren und wieder in sein eigenes, sicheres Land zurückkehren. [unbekannter Blindtextautor]

 

Der Deutsche Designtag hat einen erst jetzt bekannt gewordenen Erfolg in der politischen Interessenvertretung errungen – hier in der leicht verbesserten Fassung nach der Durchsicht durch das 8daw-Korrektorat: Seit 1975 fehlen in den meisten Testtexten die Zahlen, weswegen in der Neufassung des TypoGb. § 204 ab dem Jahr 2034 in 86% der Texte Zahlen zur Pflicht werden. Quelle: Raiffeisen Lune eG


 

 

Nur noch bis Sonntag, 4. April 2021

The Alphabettes Mentorship Program


Das Alphabettes-Netzwerk von Frauen für Frauen in der Type-Design-, Lettering- und Typografie-Szene ruft noch bis zum Sonntag zu Bewerbungen für die nächste Runde im Mentorenprogramm auf: Wer möchte gerne Mentee werden in der Frühjahrs- oder Herbst-Runde? Einfach die Application-Form ausfüllen, dann startet das Organisationsteam den Matchmaking-Prozess. Übrigens: Mentorinnen werden durchgehend gesucht, nicht nur während der Bewerbungsphase.

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bis Dienstag, 15. Juni 2021

Gerard Unger Scholarship 2021 by TypeTogether


Mit der neuesten Ausgabe des Gerard-Unger-Stipendium 2021  unterstützt das Team um Veronika Burian und José ­Scaglione Studierende und Absolventen der letzten zwei Studienjahre (2019 bis 2021) dabei, ihre vielversprechenden Schriftgestaltungsprojekte professionell fertigzustellen und zu veröffentlichen – mit Rat, Tat und Geld. Übrigens: Alle bisherigen Stipendiaten haben Preise gewonnen – drei von ihnen sogar das Type Directors Club Certificate of Excellence.


Das Fundstück der Woche

 
 
 

Klamotte mit Durchblick: In Issey Miyakes Herbst-Winter-Kollektion 2021/2022 gibt es eine Serie namens Monochrome Planet – die flachen Kleidungsstücke lassen sich immer wieder neu entlang der plissierten Linien in dreidimensionale Formen verwandeln. Dank der kreisförmigen Öffnungen entstehen fließende Statuen, die – je nach Standort und Lichteinfall – individuelle Verbindungen eingehen zwischen Vorder- und Hintergrund, zwischen Erde und Himmel, zwischen Heute und Morgen.


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel], Nina Shell [nsh], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
1 + 4 picture alliance / Photoshot 
2 + 3 picture alliance / Alexander Demianchuk/TASS/dpa / Alexander Demianchuk
Fundstück: Issey Miyake


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