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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 23. April 2021

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

warum bestellen wir runde Pizzen in viereckigen Schachteln und essen sie dann als Dreiecke? Das war eine von vielen bitterbösen Twitter-Reaktionen auf das osterwochendliche #laschetdenktnach – und so ging es weiter: tapsig, ja zuweilen tollpatschig, gern verdruckst und stets konturiert von einem fast kindlich-naiven Beharrungsvermögen: Ich will aber! Am Ende dieser Woche – in der wenigstens die gleich vierfache Kanzlerkandidaturfrage ihrem dramaturgischen Schlusspunkt zugeführt wurde – ist fast alles andere genauso unklar wie zuvor: Warum darf wer was eigentlich ab einem Inzidenzwert von 100? Von 165? Einziger Vorteil: Die Länder machen zwar noch immer, was sie wollen, aber sie dürfen in der Konsequenz ihrer Maßnahmen zumindest nicht unter den bundesweiten Regelungen agieren. Oder?
            Um da keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Es fühlt sich zwar an vielen Stellen falsch an, in der leider von den Volksvertretern herbeigeführten Situation ist es jetzt aber absolut richtig, dass mit der Reform des Infektionsschutzgesetzes endlich deutschlandweite Regelungen zur Eindämmung der Pandemie verabschiedet wurden. Was ich aber nach wie vor vermisse: Professionalität. Gerade wenn in Grundrechte eingegriffen und der historisch wohl begründete deutsche Föderalismus ausgehebelt wird, bedarf es nicht kleinverhandelten Stückwerks, sondern überzeugender Ideen und nachvollziehbarer Argumente. Und Kommunikationsfähigkeit.
          Eine Fähigkeit, über die der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach verfügt – der wohl nicht aus Versehen gerade jetzt mit der Idee für sechs neue europäische Grundrechte unter dem Titel Jeder Mensch hausieren geht. Die, wie sich das gehört, natürlich sofort umfassend kritisiert, ja verrissen werden … aber im Vergleich zur Beharrungsnaivität anderer politischer Akteure wenigstens Aufbruch und Perspektive verheißen.
          Der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda fasst es in einem lesenswerten ZEIT-Artikel sehr prägnant zusammen: »Wir brauchen mehr von Samuel Becketts lakonischer Zuversicht: ›Immer versucht. Immer gescheitert. Egal. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.‹ Und wir werden scheitern. Weil die Pandemie auch weiter Leid produzieren wird, weil uns Errungenschaften durch die Finger rinnen und neue Konflikte entstehen. Aber wenn wir das Wissen darum zum Teil unseres Handelns machen, dann wird es für alle erträglicher. Dann können wir flexibler, agiler und angemessener handeln. Hier kann Politik von Kunst und Kultur lernen. Wenn sie sich endlich – gerade in dieser Zeit – mit ihr ins Gespräch begibt. Wenn sie den Sinn ihres Handelns erklärt, um die Wirksamkeit ihrer Entscheidungen zu erhöhen. Denn dann wird sich auch das Notwendige endlich richtig anfühlen.« Das wäre doch nur zu schön, nicht wahr?

Ich wünsche ein zuversichtliches Wochenende, jetzt erst recht!
Boris Kochan

 

Diese 8daw-Ausgabe begleiten Bilder und Texte von Life, einer neuen Ausstellung von Olafur Elíasson in der Fondation Beyeler in Basel, deren Ansatz so grund(!)sätzlich wie utopisch ist: »Schon seit dem Beginn meiner künstlerischen Arbeit in den frühen 1990er Jahren interessiere ich mich für die Wahrnehmung sowie für die kognitiven und kulturellen Bedingungen, durch die diese gestaltet wird. Life wird durch die aktive Begegnung mit dem Werk zum Leben erweckt, durch Ihre Wahrnehmung.« Dazu geben Museum und Künstler gemeinsam die Kontrolle über das Kunstwerk ab ... die Glasfassade des Gebäudes wurde entfernt und ein grün eingefärbter Teich aus dem Garten in die Räume hinein verlängert. Dort, wo sonst an den Wänden Picassos oder Monets hängen, können Besucher jetzt auf einem Steg durch die Wasserlandschaft flanieren und Seerosen, Muschelblumen und andere Gewächse bestaunen. Die Wände sind leer.

Damit werden die Räume nicht nur den menschlichen, sondern ebenso den nichtmenschlichen Besuchenden, den Pflanzen, den Mikroorganismen, dem Wetter, dem Klima überantwortet – einer Vielzahl Elemente, die ein Museum normalerweise fernzuhalten versucht: »Wir hingegen wollen alle und alles willkommen heißen.« Für Sam Keller, den Direktor der Fondation Beyeler, ist dieses Kunstwerk ein kollektives Experiment: »Es stellt Konventionen von Kunst, Natur, Institution und Leben in Frage und versucht ihre Grenzen zerfließen zu lassen. Die natürlichen Elemente Wasser, Erde, Luft und Licht sind Teil davon, so auch Raum und Zeit. Klima und Wetter beeinflussen die Entwicklung und die Wahrnehmung der Ausstellung.«

Nachlese – Morgen, am 24. April, erinnern Armenier·innen auf der ganzen Welt an den Genozid an ihrem Volk. Im Vergleich etwa mit der Holocaustforschung gibt es große Defizite bei der Aufbereitung – darauf macht der Journalist Tigran Petrosyan in der taz aufmerksam: »Die Unzugänglichkeit von Quellen bildet das größte Problem für eine detaillierte und vertiefende Forschung für die Wissenschaftler·innen am Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum. Für den Gründungsdirektor Mihran Dabag liegt der Grund in der türkischen Leugnung des Genozids, in deren Folge der Zugang zu den Archiven und anderen Quellenmaterialien nicht nur erschwert, sondern lange Zeit nahezu unmöglich gemacht worden sei.« In unserer 8daw-Ausgabe #12 im November 2020 hat Catherine Avak anlässlich des Kriegs mit Aserbaidschan über ihre Annäherung an ihre Heimat Armenien geschrieben: Wann endlich?


 
 

»Life bietet den Besuchenden die Möglichkeit, alle ihre Sinne zu aktivieren. Durch die Gerüche der Pflanzen und des Wassers, die Geräusche der Umgebung, die Feuchtigkeit in der Luft werden die Besuchenden immer wieder angeregt, mehr als nur den Sehsinn zu benutzen, um das Kunstwerk zu erkunden. Die Ausstellung lädt zu einer Panoramawahrnehmung innerhalb der Landschaft ein. Es wird suggeriert, dass das, was sich hinter, neben oder über befindet, genauso wichtig ist wie das, was räumlich oder zeitlich direkt vor uns liegt.«


 
 

Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch
München, April 2021, Luchterhand Verlag, 32 Seiten 
ISBN: 978-3-630-87671-9

Aus dem Klappentext:
Mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 in Frankreich wurden die Grundsteine für unsere moderne Gesellschaft gelegt, für unsere Freiheit und unsere unveräußerlichen Rechte. Das Erstaunliche an diesen Deklarationen ist, dass sie nicht die Wirklichkeit widerspiegelten. Die großen Manifeste der Menschheit verlangten eine Ordnung der Gesellschaft, die es noch nicht gab. Es waren Utopien.
          Heute stehen wir vor ganz neuen Herausforderungen. Globalisierung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Klimawandel: Die Gefahren, denen wir heute ausgesetzt sind, waren vor 200 Jahren noch nicht einmal vorstellbar. Wir brauchen deshalb neue, zusätzliche Menschenrechte. Heute müssen wir wieder über unsere Gesellschaft entscheiden – nicht wie sie ist, sondern so, wie wir sie uns wünschen.
Aus dem Text: Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union »ist eine sehr fein austarierte Vereinbarung, sie basiert auf der Menschenrechtskonvention, der Sozialcharta, den Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten und der Rechtsprechung der europäischen Gerichtshöfe. Sie gibt, wenn man so will, den Geist der Verfassungen und des Rechts aller Länder der Europäischen Union wieder. Aber so brillant dieser Kompromiss auch ist – er hat nicht die Kraft der Erklärungen von 1776 und 1789. Auch heute wissen nur zwölf Prozent der Menschen in Europa, was diese Charta überhaupt ist. Und selbst wenn EU-Mitgliedstaaten sie systematisch verletzen, kann sie nicht vor den Europäischen Gerichten eingeklagt werden.
          Nie zuvor war zwischen den Ländern Europas so lange Frieden wie seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Nie zuvor konnten wir unsere Lebensentwürfe so selbstbestimmt verwirklichen, nie zuvor war unser Leben in einem solchen Umfang in Würde, Freiheit und Gleichheit möglich. Die Utopien der großen Er­klärungen der Menschheit wurden weitgehend wahr. «
         Stellen Sie sich vor, »es gäbe sechs neue Grund­rechte. Grundrechte, die einfach sind, naiv und Ihnen utopisch erscheinen mögen. Aber genau darin könnte ihre Kraft liegen. 
Wir,
die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, erachten die nachfolgenden Grundrechte, in Ergänzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Verfassungen ihrer Mitgliedstaaten, als selbstverständlich: 
Artikel 1 – Umwelt Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben. 
Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.
Artikel 3 – Künstliche Intelligenz Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen. 
Artikel 4 – Wahrheit Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen. 
Artikel 5 – Globalisierung Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden. 
Artikel 6 – Grundrechtsklage Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.«

 

 
 

»Ich habe im Laufe der Jahre mehr und mehr Interesse dafür entwickelt, das Leben nicht aus einer menschenzentrierten, sondern aus einer breit angelegten, biozentrischen Perspektive zu betrachten. Beispielsweise habe ich mich dabei beobachtet, wie ich Substantive in Verben verwandle. Wenn ich durch meine Ausstellung gehe, versuche ich zum Beispiel zu baumen, um mir Perspektiven bewusst zu machen, die über das hinausgehen, was wir Menschen uns eigentlich vorstellen können.«


Darum werden wir erst
 

Jahrzehnte nach ihrer Festschreibung 1948, scheint die Umsetzung der Menschenrechte in immer weitere Ferne zu rücken, womöglich in (schwärmerische?) Traumwelten, in Anderswelten. Täglich spielt uns die Wirklichkeit verstörende Bilder zu; von Diskriminierung und Ausgrenzung, Überwachung und Terror, Folter und Krieg. Menschenrechte sind ein globales Geburtsrecht, sie können weder erworben noch verliehen oder aberkannt werden. Jeder Mensch wäre demnach frei und gleich an Würde und Rechten geboren (Art. 1) … ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand (Art. 2). Wie könnte eine solche Utopie im Alltag sichtbar gehalten werden? So dass sie als Fixstern Orientierung geben könnte?
            Vor dem Germanischen Museum in Nürnberg, der vormaligen Stadt der nationalsozialistischen Rassegesetze und der Reichsparteitage, hat der israelische Künstler Dani Karavan Die Straße der Menschenrechte errichtet: Aus der Altstadt kommend, geht der Besucher durch ein dreibogiges Betontor, ein reduziertes Spiegelbild des Kartäusertors am anderen Ende der Passage. Verbindung schaffen 27 acht Meter hohe, schnörkellose Betonsäulen, zwei Bodenplatten und ein Baum – Symbol des Lebens. In die Säulen sind die Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eingraviert, verkürzt in Deutsch und jeweils einer Fremdsprache. Die verschiedenen Sprachen verbinden: Die Menschenrechte sind für alle in gleicher Weise gültig – überall auf der Welt. Gehend, lesend durch die schlichte Säulenreihe zu spazieren, schenkt den subjektiven Gedanken Raum, lenkt ins Selbstgespräch, legt es nahe, die Grenzen des eigenen Ichs zu verschieben. Oder wie es Ernst Bloch zu Beginn seines Werkes Prinzip Hoffnung schreibt: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« [gw]

 

Kann Kunst die Welt verändern? Andy Warhol reflektiert mit seiner Serie Electric Chair die politische Kontroverse um die Todesstrafe in Amerika in den 1960er Jahren. Der in Berlin arbeitende Künstler Satch Hoyt mahnt mit seiner Klanginstallation Say It Loud die Redefreiheit an. Lieve van Stappen erinnert mit Taufkleidern aus Glas an die Missbrauchsfälle der Kirche. Der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei hat die Verletzung der Menschenrechte am eigenen Leib erfahren und wird nicht müde, deren Einhaltung einzufordern. Eine Welt, in der die Menschrechte für alle gleichermaßen gelten, ist immer noch eine Utopie. Doch, wo Worte überhört werden, gelingt es der Kunst zu berühren, die Utopie sichtbar zu halten – ein Fixstern, der Orientierung zu geben vermag.


 
 

»Ich lade Sie ein, die Ausstellung selbst zu entdecken. Können Sie die Fondation Beyeler nicht persönlich besuchen, lässt sich die Ausstellung auch zu jeder Tages- und Nachtzeit auf der Website live verfolgen, abwechselnd aus menschlicher und nichtmenschlicher Perspektive. Life wird auch von einer Microsite begleitet, auf der die wachsende Sammlung von Quellen zu finden ist, die mich während der Entstehung der Ausstellung inspiriert haben.«


Digitale Grundrechte
 

Wenn im Juni dieses Jahres zum Ende der halbjährigen portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft eine Charta der digitalen Rechte auf den Weg gebracht werden soll, wird Daniel Opper ganz genau hinschauen, was dabei herauskommt. Als Leiter des Bucerius Lab der ZEIT-Stiftung ist der Soziologie-, Medien- und Politikwissenschaftler mitverantwortlich für die von der Stiftung erstmals 2016 formulierte Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union  – eine echte Pioniertat. In 23 wohlformulierten Artikeln wird der Horizont der durch die Digitalisierung getriebenen, lebensweltlichen Veränderungen vor dem Hintergrund der Charta der Grundrechte der Europäischen Union  abgesteckt – von Würde und Freiheit bis zur Datensouveränität und weit darüber hinaus. »Ein politisches Manifest in Gestalt eines gesetzesähnlichen Textes«, nennen die durchaus hochkarätigen Mütter und Väter der Charta ihr Werk, mit dem sie in aller Bescheidenheit erst einmal »eine Debatte über die Zukunft der digitalen Gesellschaft« anstoßen wollen.            

Die berechtigte Frage, ob jede gesellschaftliche Entwicklung denn unbedingt auch einer Festschreibung mit Verfassungsstatus bedarf, beantwortet sich hier schon durch die ethische Dimension der Digitalisierung, die sich durch eine immer leistungsfähigere KI auftut. Im ersten Absatz des Artikels 8 der Charta wird das unmittelbar klar: »Ethisch-normative Entscheidungen können nur von Menschen getroffen werden.« Ein Satz wie in Stein gemeißelt, der noch vor nicht allzu langer Zeit niemals Eingang in so ein gewichtiges Papier gefunden hätte. Wie ein durchaus gut gelaunter Daniel Opper in einem Telefonat berichtete, war ausgerechnet die Ausführlichkeit des Textes der ZEIT-Stiftung Gegenstand heftiger Kritik – obwohl nur eine Seite lang. Bemerkenswert, wenn man ihn mit dem Elaborat des Herrn von Schirach vergleicht. Darüber übrigens, ob die Charta der ZEIT-Stiftung denn auch in das Rechtswerk der EU einfließt, mochte sich Opper vorläufig nicht äußern. Wichtig ist sie allemal. [um]

 

»Wo wäre ich hingekommen, wenn ich intelligent gewesen wäre?« – Und: »Mit dummen Fragen fängt jede Revolution an.« Joseph Beuys – Künstler, Lehrer und großer Ironiker – hatte die Gabe, aus einfachen Fragen große Denkgebäude zu errichten, die er durchaus provokativ in Wort und Tat vertrat. Der Mitbegründer der Grünen Partei tat dies gerne mit einem heiteren Ausdruck. Wie auf jenem Foto als er sich am 11. Oktober 1972 grinsend von der Polizei aus der Düsseldorfer Kunstakademie hinaus eskortieren ließ, nachdem er mit mehreren Aktionen gegen die restriktiven Aufnahmekriterien der Hochschule darauf aufmerksam gemacht hatte, dass das Recht auf Ausbildung für ihn ein Menschenrecht sei. Demokratie ist lustig schrieb er damals über das Foto, das als kolorierter Siebdruck seines Freundes Klaus Staeck Kultstatus erlangte. Aber natürlich war ihm klar, dass Demokratie gar nicht lustig ist, sondern ein gewaltiges Menschheitsprojekt, für das es sich zu »verschleißen« lohne, wie er zu betonen nicht müde wurde. So etwa in seinem berühmten Boxkampf für direkte Demokratie auf der Documenta 1972.


 
 

»Es interessiert mich, wie wir von unseren Sinnen Gebrauch machen, wie wir unser Bewusstsein einsetzen. Und was passiert, wenn unsere Gefühle abstumpfen? Meine gute Freundin, die Kognitionswissenschaftlerin und Dichterin Pireeni Sundaralingam, erforscht, wie digitale Umgebungen oft als Systeme konstruiert werden, die Aufmerksamkeit binden, die neurologischen Stress aufbauen und bedrohungsbasierte Verhaltensmuster generieren. Sie argumentiert, dass die Entwicklung des Gehirns in den Bereichen Wachstum, Kreativität, Innovation und Widerstandsfähigkeit durch eine vielschichtige sensorische Umgebung sowie durch digitale oder physische Räume, in denen Unbestimmtheit anstatt Bedrohung herrscht, positiv beeinflusst wird. Ich hoffe, dass Life die Besuchenden dazu ermutigt, sich in einer ausgedehnten, offenen Landschaft, die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten zulässt, zu erfahren, nie allein, nie völlig getrennt, sondern als vielschichtige Wesen, die stets in größere, unbändige Ökologien eingebunden sind.«


Ein Recht, eine Wahrheit, zwei Fragezeichen
 

Auch wenn oft so getan wird: Eine originär westliche Erfindung sind die Menschenrechte nicht. Vor fast viertausend Jahren verbriefte bereits der Codex Ur-Nammu in Mesopotamien das Recht auf Leben. Und mit dem Kyros-Zylinder gilt das antike Persien als Wiege der Menschenrechte, nachdem Kyros der Große die Sklaven aus Babylon befreite und allen Menschen Religionsfreiheit zusprach. Und so ging es weiter über den afrikanischen Kontinent, die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Französische Revolution bis heute – wo fast alle Staaten der Erde Menschenrechtsabkommen ratifiziert oder in ihrer Verfassung verankert haben. Trotzdem kommt es vor, dass etwa Ralf Michaels, Direktor des Max-Planck-Instituts, daran erinnern muss, dass Deutschland eben nicht Weltgesetzgeber sein könne … Etwa wenn das Bundesverfassungsgericht mit der Anfrage an sein Institut herantritt, die Rechtmäßigkeit eines Gesetzes zu überprüfen, das den im Ausland geschlossenen Ehen von minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland die Gültigkeit aberkennt. Zum Schutz des Kindeswohls natürlich – und dabei ungeachtet aller möglicherweise nachteiliger Konsequenzen, die eine solche Entscheidung vor allem für die plötzlich unverheirateten minderjährigen Mädchen in ihrem kulturell anders geprägten Umfeld mit sich bringt. Es scheint also das eine Recht so wenig zu geben wie die eine Wahrheit, die auf der wahrnehmbaren Kohärenz mit der Wirklichkeit beruht.            

Was wir für wahr halten, basiert auf der Rezeption massenmedial getriggerten Wissens. So sind wir bereits Teil des Systems, das uns als Kontrollmechanismus dienen soll. Wo liegt der faktische Referenzrahmen, an dem wir Wahrheit bemessen? Ist es die – weder unfehlbare noch ungefilterte – Wissenschaft? Und so es denn die eine Wahrheit gibt – kennt sie der Politiker? Und muss er sie überhaupt vertreten? Hannah Arendt bezweifelt das: »Vom Standpunkt der Politik gesehen ist Wahrheit despotisch.« Sie ersticke den politischen Diskurs, weil sie keine Meinungen zulasse. »Wahrhaftigkeit ist nie zu den politischen Tugenden gerechnet worden, weil sie in der Tat wenig zu dem eigentlich politischen Geschäft, der Veränderung der Welt und der Umstände, unter denen wir leben, beizutragen hat.« Und auch Max Weber sieht im Politiker weniger den Gesinnungsethiker, der gemäß moralischer Maxime handle, als vielmehr den Verantwortungsethiker, der in seine Entscheidungen zugleich auch die absehbaren Folgen einbeziehen müsse. Das Problem der Demokratie ist nun in der Tat, dass sie Vertrauen voraussetzt, während es bekanntermaßen in der Natur des Vertrauens liegt, dass es ohne Garantien auskommen muss – einklagbar ist seine Basis jedenfalls nicht. [sib]


 
 

Life löst sich vom menschlichen Zeitempfinden: Es gibt kein festes Eröffnungs- oder Enddatum. Stattdessen nimmt die Ausstellung im April schrittweise Form an, im Juli wird sie langsam verschwinden. Auf diese Weise werden Auf- und Abbau von Life zum integralen Bestandteil des Kunstwerks, den die Besuchenden vom Park der Fondation Beyeler aus mitverfolgen können.


Das Fundstück der Woche

 
 

Identität und Dematerialisierung spielen in Geta Brătescus Werk eine entscheidende Rolle. Ihr Bezugspunkt war ihr Studio, zugleich sicherer Rückzugsort und Bühne ihrer Arbeit. Und das auch im übertragenen Sinn: das Studio als Geisteszustand – denn alles, was ihr unterwegs begegnete, hatte das Potenzial, Kunst zu werden. Ihr Selbstportrait Mrs Oliver in her traveling costume gibt ihren Obsessionen einen ikonografischen, einen ernsten wie auch wunderbar verschmitzten Ausdruck.


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel], Nina Shell [nsh], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Bild 1, Bild 2, Bild 5:
Life, 2021 Fondation Beyeler Photo: Mark Niedermann
Bild 3: Livestream still from Life, 2021 Fondation Beyeler Photo: Studio Olafur Eliasson
Bild 4: Detail of Life, 2021 Fondation Beyeler Photo: Pati Grabowicz

Fundstück der Woche:
© The Estate of Geta Brătescu, Hauser & Wirth and Ivan Gallery Bucharest


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