facebook
twitter
linkedin
instagram

web view
 
Headerbild
8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 1./2. Oktober 2021

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

ein wirklich »bezaubernder Hauch von Nichts, den Sie da beinahe anhaben. Gefällt mir.« Gewohnt lässig kommentiert Sean Connery in Diamantenfieber das ihre Reize nur wenig verhüllende Outfit seiner Partnerin Jill St. John – die virtuose Balance zwischen Rabauke und Gentleman hat viel zum sexual charisma des frühen Bond und damit zum weltweiten Erfolg der Serie beigetragen. So ein Satz ist im in dieser Woche nach pandemie-bedingter Verschiebung endlich angelaufenen neuen Bond völlig undenkbar, wie so vieles, was in den 1960er und 1970er Jahren noch flapsig oder gar ernst erlaubt war. Nun soll es hier nicht um Bond und auch nicht dieses entscheidende beinahe – im englischen Original almost wearing – gehen, das diesem Satz den Dreh gibt. Sondern um das Nichts.

Denn das Nichts hat in diesen Tagen noch eine ganz andere Wendung bekommen – als der Künstler Jens Haaning anstelle der vom Aalborger Kunsten-Museum bestellten Collage aus Geldscheinen zwei Bilderrahmen mit weißem Inhalt mit dem vielsagenden Titel Take the money and run lieferte. 70.000 € hatte ihm Museumsdirektor Lasse Andersson zur Verfügung gestellt, es sollte, so auf der Webseite nachzulesen, um »cooles Cash und coole Ästhetik« gehen. Was, so finde ich zumindest, echt gelungen ist: Wahre Ästhetik entsteht im Kopf,. Oder wie Martin Walser in die Verwaltung des Nichts geschrieben hat: »Was wäre das Nichts ohne Fiktion! Es wäre das reine Nichts.«

Schönes Wochenende!
Boris Kochan

 

Frank Zappas frotzelnder Aphorismus »Kunst ist, aus nichts etwas zu machen« hat nicht nur bei dieser 8daw-Ausgabe Pate gestanden. Wir haben nach unserer Sommerpause damit begonnen, wieder etwas experimenteller an die Themenfindungen und Ausgestaltungen von 8daw heranzugehen – und nennen diese neue Spielzeit X-Phase. In dieser Ausgabe unternehmen wir einen ersten Ausflug ins gesprochene Wort – Ulrich Müller liest einen Text von John Cage. Und unsere für ihre Wemberlines geliebte Illustratorin Martina Wember hat ihre Interpretationen des Nichts lieber materialisiert ...


 
 

Das Aquarium für schüchterne Fische war nur eine der kuriosen Erfindungen des 1854 geborenen Schriftstellers und Humoristen Alphonse Allais. Sein Trauermarsch zur Beerdigung eines bedeutenden, gehörlosen Menschen entfaltet allerdings eine eher hintergründig um die Ecke gedachte Bedeutung: Ist er doch in Wirklichkeit der Trauergemeinde gewidmet, um sich, wenn schon nicht zu Lebzeiten, dann doch wenigstens nach dem Ableben einmal in die Situation Gehörloser zu versetzen.


Leere findet statt
 

Nix. Kein Ding. Kein Klang. Kein Thema. Nichts: Ein Loch, eine Lücke, eine Aussparung. Diese erhält ihre Bedeutung durch das Außenherum – ein Leerraum, der an einen nicht leeren Raum grenzt. Beispiel: das Mäuseloch. Oder der Weißraum, der Zeichen, Buchstaben, Texte erst sichtbar macht – ohne Pause keine Musik. Zen habe nichts, heißt es: kein Geheimnis, keine Lehre, keine Antwort. Also spricht der Zen-Meister Ikkyū Sōjun (1394–1481) zu einem Verzweifelten: »Ich würde gerne irgendetwas anbieten, um Dir zu helfen, aber im Zen haben wir überhaupt nichts.« Im Schweizer Museum of Emptiness findet Leere statt. Mitten im Zentrum von St. Gallen lädt das Haus als begehbare architektonische Skulptur dazu ein, sich vom Angebot der Fülle zu erholen, sich auf die Leere einzulassen. Wen die Abwesenheit äußerer Reize aber zu innerer Leere führt, dem sei ein Gedanke aus Monty Pythons Kultfilm Das Leben des Brian zur Seite gestellt: »Du kommst aus dem Nichts. Du gehst ins Nichts. Was hast Du zu verlieren? Nichts!« [gw]

 

Der Schriftsteller Marie-Henri Beyle, bekannter als Stendhal, beschreibt in Reise in Italien seine tiefe Ergriffenheit in Florenz angesichts der Fülle von überwältigenden Kunst- und Bauwerken. Schon bei der Ankunft fühlt er sich wie in einem Wahn und kann keinen klaren Gedanken fassen. Graziella Magherini, Leiterin der psychologischen Abteilung des Florentiner Krankenhaus Santa Maria Nuova, fallen Ende der 1970er Jahre sich ähnelnde Krankheitsbilder unter Touristen auf: Verwirrung, Herzrasen, Panik, Halluzinationen, Ohnmacht (um nur einige wenige zu nennen) führt sie auf die Überreizung durch kulturelle Schätze zurück. Sie fasst die psychosomatischen Störungen unter dem Namen »Stendhal-Syndrom« zusammen. Diesbezügliche Veröffentlichungen werden allerdings unter Medizinern durchaus kontrovers diskutiert. Trotzdem wird das Stendhal-Syndrom in einer Fülle von Theaterstücken, Romanen oder Erzählungen aufgegriffen. Die bekannteste künstlerische Übersetzung ist wohl Dario Argentos Horrorfilm Das Stendhal-Syndrom von 1996.


 
 

»Kunstwerke stellen Fragen – sie beantworten keine«, war das Credo John Cages, das ihn dazu bewog, in vielen seiner Werke durchaus extreme Positionen einzunehmen. War es in 4’ 33” die – allerdings nur vorgebliche – Verweigerung von Klang, so kann man bei der Medienkomposition Williams Mix vom genauen Gegenteil sprechen. Von den Elektronik-Musik-Pionieren Bebe und Louis Barron aufgenommene Geräusche hat Cage in einer aufwändigen Partitur zu einem Tonbandstück von extremer Dichte verarbeitet. Vier Minuten dauert diese Komposition gerade mal, an deren bislang einziger Realisation Cage, David Tudor und der Komponist Earl Brown ungefähr ein Jahr lang beschäftigt waren.


 
https://assets.eightdaw.com/bilder/kw39/illu-4.jpg
 

Nichts Nothing Null Zero Nirwana Ruhe Stille Taubheit Tod Angst Blutleere Kälte Blau Weiß Leere Langeweile Menschenleere Verlassenheit Isolation Alleinsein Einsamkeit Vakuum Horror Vacui Hohlraum Hunger Luftleere Nirgendwo Sehnsucht Unendlichkeit Schwerelosigkeit Universum Offenheit Fantasie Freiheit Möglichkeiten Fülle Alles Hoffnung. [sib]


 
 

Um imaginierte Klänge, wie sie sich schon beim Marche Funèbre von Alphonse Allais als eine Interpretationsmöglichkeit angeboten hatten, geht es ganz explizit in MO-NO: Musik zum Lesen des Komponisten und Theologen Dieter Schnebel. Im Klappentext zur Buchedition heißt es: »Dieses Lese- und Bilderbuch bietet weder Literatur noch aufs Blatt gebannte Kunst fürs Auge. Vielmehr ist MO-NO Musik – eine Musik zum Lesen; genauer: Musik für einen Leser. Die Lektüre des Buchs will im Kopf des Lesers Musik entstehen lassen, sodass er, im Lesen allein seiend – mono –, zum Ausführenden von Musik wird, für sich selbst Musik macht.« Ein Lese- und Musikvergnügen der ganz besonderen Art!


Wohl ohne Wollen
 

Meghan und Harry wollen alternative Königsfamilie …

Grüne wollen Habeck als Vizekanzler …

Sechs Kandidaten wollen Bürgermeister in Knittlingen werden …

Forschende wollen menschliches Gehirn auf Microchip kopieren …

https://assets.eightdaw.com/bilder/kw39/illu-3.pngAuch das kommt – und zwar en masse - dabei heraus, wenn Wollen als Suchbegriff bei Google eingegeben wird. Solches und ähnliches Wollen gab es natürlich schon immer – und das zuhauf. Und schon in dieser kleinen Zusammenstellung wird unmittelbar nachvollziehbar, wieso der zutiefst buddhistisch geprägte Komponist John Cage schon lange vor dem Zeitalter des Anthropos Googliensis eine tiefsitzende Aversion gegen das Wollen entwickelt hatte. Sein Gegenentwurf: Silence. Wobei nicht etwa die Abwesenheit von Klängen gemeint war, sondern, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: »By silence I mean freedom of ones intentions«. Die Befreiung vom eigenen Wollen also und die Freiheit in der Absichtslosigkeit.

Cage hat sein Prinzip Silence unter anderem in mehreren durchkomponierten Vorträgen niedergelegt, denen der gleiche Hang zum Paradoxalen eigen ist wie in der Antwort eines buddhistischen Gelehrten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens: Er zog einen Schuh aus und stellte ihn sich auf den Kopf. Cages Vortrag über nichts, der 1995 in der Übersetzung von Ernst Jandl bei Suhrkamp erschien, hat eine strenge Gliederung, die der Sprache eine merkwürdige, verfremdende Rhythmik aufprägt, sodass nach einiger Zeit der größere Zusammenhang zu verschwimmen beginnt. Es geht ja auch um nichts. Oder etwa doch, als das Andere zum Etwas? Cage selbst, der in dem Vortrag von seiner Ausbildung und seinem Verhältnis zu Klängen, Tönen und Geräuschen erzählt, schlug übrigens vor, gleichzeitig zum Vortrag ein oder mehrere andere Stücke von ihm aufzuführen oder einfach die Fenster zu öffnen und die Geräusche von draußen hereinzulassen, was uns dazu verleitet hat, dem folgenden kurzen Ausschnitt aus dem Vortrag über nichts einige zufällig ausgewählte Geräusche zu unterlegen. [um]

 
 
Ulrich Müller liest vor a

 
 

4 Minuten 33 Sekunden Stille ist das wohl folgenreichste und berühmteste Stück John Gages, der zweifellos ein mindestens ebenso bedeutender Philosoph wie Komponist war. Das Stück entstand aufgrund eines Erlebnisses Cages in einem schalltoten Raum. Entgegen seiner Erwartung, rein gar nichts oder das NICHTS schlechterdings zu hören, vernahm er zwei Klänge: einen hohen und einen tiefen. Der hohe, erfuhr er später, entsteht durch die Aktivitäten des Nervensystems, der tiefe durch den Blutkreislauf. Cages glasklare Schlussfolgerung: Stille gibt es gar nicht und ebendies nahm er zum Anlass für sein Stück 4’ 33”. Bei der Uraufführung durch die Pianistenlegende David Tudor waren die einzigen akustischen Ereignisse das Geräusch eines Unwetters und die teils amüsierten, teils erbosten Reaktionen des Publikums. Für Cage war auch das Musik – denn Musik ist überall.


Das Fundstück der Woche

 
 

Was war zuerst da, Henne oder Ei? Das ist hier nicht die Frage, obwohl sich der 1980 geborene Tokioter Designer Yuki Matsueda gerne auf die »unendliche Energie« des Eies bezieht. Die dann ja doch wieder etwas mit dem Kreislauf von Henne und Ei zu tun hat … und mit dem, was vielleicht davor mal passiert ist, dieser Urknall aus dem Nichts. Sein allererstes, weltweit bekanntes Ei-Kunstwerk war übrigens das Super Egg, mit dem er die Zweidimensionalität seines Wirkens ins Räumliche sprengte.


 
 

Sie erhalten diese E-Mail an unknown@noemail.com, weil Sie sich als 8daw-Empfänger angemeldet haben, in geschäft­lichem Kontakt mit der Kochan & Partner GmbH stehen oder an einer der Veranstal­tungen der Kooperations­partner teil­genommen haben. Fügen Sie bitte die E-Mail-Adresse boris.kochan@eightdaw.com Ihrem Adress­buch oder der Liste sicherer Absender hinzu. Dadurch stellen Sie sicher, dass unsere Mails Sie auch in Zukunft erreichen. Wenn Sie 8daw künftig nicht mehr erhalten wollen, können Sie unseren Newsletter abbestellen.

 
ANMELDEN
 

Wurde Ihnen dieser Newsletter weiter­geleitet? Jetzt anmelden!


IHRE MEINUNG
 

Wie fanden Sie 8daw heute? Geben Sie uns Ihre Rückmeldung.

 
WEITEREMPFEHLEN
 

Empfehlen Sie 8daw von Boris Kochan und Freunden weiter!


FOLGEN
 
facebook

Facebook

twitter

Twitter

linkedin

Linkedin

instagram

Instagram


TEILEN
 
facebook

Facebook

twitter

Twitter

linkedin

Linkedin

whatsapp

WhatsApp

xing

XING

e-mail

E-Mail

 
 

In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Fundstück: Courtesy of Imgur


Datenschutz | Kontakt | Impressum
© 2021 Boris Kochan