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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 15./16. Oktober 2021

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

das »Ende der bürgerlichen Mitte« hat in diesen Tagen das Sinus-Institut bei der Vorstellung seines aktualisierten Gesellschaftsmodells ausgerufen: Natürlich sind die sozialen Milieus ständig in Bewegung, die Bubble-Grafik des Instituts gruppiert Trends und übersetzt damit auch zeitdiagnostische Schlüsselbegriffe wie »Klimawandel, Migration, Pluralisierung der Lebensformen, Wohlstandspolarisierung, Digitalisierung, Ästhetisierung des Alltags« in ansteuerbare, also vermarktungsoptimierte (Zielgruppen-)Strukturen.

Dieses Bild einer Gesellschaft ohne Mitte erscheint mir allerdings nicht nur ob des Bundestagswahl-Ergebnisses eher als etwas bemühte, Aufmerksamkeit heischende Schlagzeile. Gewählt wurde doch, so alles über alles, ein politische Mitte verheißendes Merkel-Rauten-Kontinuum namens Tu-mir-bitte-nicht-Weh mit ein ganz klein wenig, eher undeutlich akzentuiertem Aufbruch. Tief drinnen bleibt Ausdruck unserer Volksseele die Helene-Fischer-Schlagerwelt à la Null auf 100, die – dynamisch überhöht – Stillstand mit etwas Erotik und Emotion besingt. Da tut sogar der das Bad-Signal persiflierende Beginn des neuen Adele-Videos Easy On Me gut.

Wo kommen wir her und wo gehen wir hin – zwischen den überzeugend aufrüttelnden Worten eines Harald Welzers bei der Climate Alliance International Conference und dem wiederentdeckten Text über den Beginn jeglicher Kultur von Georges Bataille Lascaux oder die Geburt der Kunst in der nicht nur typografisch brillanten Ausgabe im Verlag Brinkmann & Bose (Achtung: völlig irrsinnige Website!): »Jeder Schritt bietet eine neue Ansicht und jener Stier etwa, den man gedrungen glaubte, verwandelt sich plötzlich in ein langes Tier mit einem Giraffenkopf, und das nach nur einer kleinen Lageveränderung.« Die Meschen von Lascaux hatten eine »entscheidende, eine schöpferische Kraft«, sie schufen »aus dem Nichts die Welt der Kunst, mit welcher der Geist sich mitzuteilen beginnt«.

Ich nehme da, vor dem soeben verkündeten großen (Koalitions-)Aufbruch, noch einmal kurz Zuflucht in den 1970er-Jahren, bei den so bodenständigen, im wahrsten Sinn Brücken bauenden Texten der deutschen Blues-Schlagersängerin Joy Fleming mit dem Neckarbrückenblues und Mannemer Dreck. Und ordne mich ein in dieses Bild der bürgerlichen Mitte mit einem leise-lauten Anklang vom Altern der Neuen Musik – weil heute das Eindeutige sogar für das Bürgerliche langweilig ist. Oder?

Ich wünsche ein schönes Wochenende!
Boris Kochan

 

X-Phase: Unsere selbstverordete, neuerliche 8daw-Experimentierphase bringt uns mit dieser Ausgabe zum Sitzen und zum – nicht nur allegorischen – Brückenbauen. Es ist zwar vielleicht nicht sofort nachvollziehbar, aber doch frappierend … liegt doch im Sitzen eine tiefe, innere Mitte: OOOhhhmmm! Brücken werden nicht nur im parlamentarischen oder Koalition-sondierenden Kontext in zwar durchaus debattenfrohen, aber schlussendlich Kompromisse befördernden SITZungen gebaut. Guter Grund, sich fotografisch ein wenig mit den von Mario Bellini für VITRA in Reichstags-Blue gestalteten Sitzen des sich gerade in Vorbereitung auf die neue Legislaturperiode befindlichen Reichstagsgebäudes zu beschäftigen. 


 
 

Wer sägt hier am Stuhl des anderen?


Das Tier im Bilde bannen
 

Ein Bild entstehe zuerst im Kopf, heißt es. Einen Blick auf seine Bilder im Kopf, auf »Zange, Schere und Lärm, ein Saltorückwärtskind mit Bakelitperücke …« erlaubt uns André Heller im Lied Die wahren Abenteuer sind im Kopf.

Was mag in den Köpfen unserer Vorfahren vorgegangen sein, die vor Tausenden von Jahren Hirsche, Bisons, Pferde, auch Menschen, auf die Höhlenwände in Lascaux gemalt haben? Manchmal sind Jagdszenen erkennbar. »Indem man das Tier im Bilde bannte, unterwarf man es auch in der freien Wildbahn seiner Macht«, schreibt der Prähistoriker Hans Georg Bandi. Neben Riten, die das Jagdglück begünstigen, vermuten Forscher in den Malereien auch die Dokumentation von Wanderrouten oder die Vermittlung von Jagdtechniken. Ob Kunst oder Design: Die Jagd war lebenswichtig. Sie verhieß Nahrung, wärmende Felle oder Knochen für Gerätschaft. Wer Erfolg bei der Jagd hatte, der konnte Familie oder Sippe ernähren und stand in der sozialen Rangfolge ganz weit oben. Höhlenmalereien wurden auf allen Kontinenten gefunden. Die bisher älteste, die Abbildung eines lebensgroßen Warzenschweins in Indonesien, wurde 2021 mittels Uran-Thorium-Analyse auf ein Alter von mindestens 45.500 Jahren datiert.

 
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Klimawandel. Als mit dem Ende der Eiszeit die Temperaturen stiegen, die Gletscher schmolzen, begannen unsere Vorfahren Behausungen zu errichten, Tiere, etwa Ziegen, Schafe oder Kühe zu züchten, Pflanzen selbst anzubauen. Die Jäger und Sammler wurden sesshaft. Das Jagdmotiv aber tauchte – sich wandelnd – immer wieder in der Kunstgeschichte auf – als Staffage für prächtige Landschaften, als mythologische Szenerien etwa mit der Jagdgöttin Diana, bis hin zur farbstrotzenden Interpretation eiszeitlicher Höhlenmalereien im Bild Jagd, einer Farbserigrafie auf Velin von A.R. Penck. Wer hierauf Jäger oder Gejagter ist, ist nicht zweifelsfrei ersichtlich. Das oben angesprochene Lied endet übrigens so: »Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit, trägt wirklich ein / Forellenkleid und dreht sich stumm / Und dreht sich stumm nach anderen Wirklichkeiten um!« [gw]


 
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Die farblich interessante Bundestagsvariante des deutschen Platzhalter-Handtuch-Syndroms.


 
 

Mittige Suada in zwei Sätzen


Wenn jetzt schon Jürgen Trittin bei Markus Lanz herumschwadroniert, Deutschland brauche unbedingt eine konservative Volkspartei, weil ja die Konservativen gerade völlig zerbröselt und marginalisiert hinten runter gefallen sind und wenn man dann noch die neuesten Studie des Sinus-Instituts liest, überhaupt

die Mitte

in Deutschland sich in Luft aufgelöst, ja, Dank maximal desaströser Kommunikation der Konservativen, der Mittleren, Mittelmäßigen also, eigentlich sich selbst

entleibt

hat, was nun natürlich, in guter alter rückschrittlicher Tradition zum kollektiven Aufschrei führt, das Land


werde     jetzt    sogleich    politisch    gänzlich


die Balance verlieren, werde mindestens

der AfD zum Opfer,
wenn nicht gar dem Kommunismus,
anheimfallen,

dem Kommunismus!,

dann empfiehlt es sich, mal wieder den guten alten Niklas Luhmann rauszukramen und nachzulesen, dass der

Zerfall der Mitte

allemal

»genügend Möglichkeitsüberschüsse«

birgt, aus dem neue, wenngleich zunächst 

»unwahrscheinliche Systembildungen«

hervorgehen könnten, wie zum Beispiel eine Koalition der Grünen mit der FDP, von der man gedacht hätte, es würde eher

Sahra Wagenknecht mit Hubert Aiwanger

sich politisch liieren – und nein, meine Lieben, nicht mit Alice Weidel – so weit ist es noch nicht gekommen, mit dem

Verfall der Sitten

– mit Alice Weidel nicht, eher mit Kurz vielleicht, was natürlich nur bedingt ernst gemeint sein kann, diesem unersättlich Mittigen, eitel Demagogischen, eben diese falsche Mitte mit herauf Beschwörenden, die lange schon nur noch

ein bourgeoises Gespenst

ist,

kaum dass Blaise Pascal geschrieben hatte:
»Die Mitte verlassen,
heißt
die Menschlichkeit
verlassen.«

Diese Mitte kann Pascal nicht gemeint haben.

[um]

 
 

 
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Im Rund hierarchisch: Stenografen sitzen auf Hockern, Bundeskanzler·in und Stellvertreter·in haben höhere Rückenlehnen und das Bundestagspräsidium darf herumrollen.


100 Jahre Donaueschinger Musiktage
 

So ziemlich jeder Komponist  (und hier handelte es sich seinerzeit tatsächlich ausschließlich um Herren) von Rang und Namen, von dem in den Gründerjahren des weltweit ältesten Festivals für sogenannte Neue Musik, den Donaueschinger Musiktagen, ein Werk aufgeführt wurde, fand sich später auf der Liste derer wieder, die in den Augen und Ohren der Nazis entartete Musik komponierten und somit in Deutschland nicht mehr aufgeführt werden durften. Dass manche Nazis damals sogar das eine oder andere Gedicht  gekannt haben sollen, macht die Sache nicht besser – soll aber an dieser Stelle vor allem daran erinnern, dass die Musiktage auch heute noch keineswegs ungefährdet sind, in ihrer kulturellen Bedeutung als Ort des musikalisch-künstlerischen Aufbruchs und somit auch als ein Ort der Opposition zu jeglichem reaktionären und völkischen Kunst- und Kulturverständnis.

Was die Documenta für die Bildende Kunst ist, sind die Donaueschinger Musiktage für die Neue Musik: Das Festival schlechthin, bei dem die weltweite Musikavantgarde sich bis heute versammelt und neueste Werke präsentiert – wo gewagte Experimente stattfinden, fantastische Musikerlebnisse zelebriert, natürlich auch Skandale provoziert werden und große, mitunter auch ganz große Karrieren ihren Anfang nahmen und nehmen. Allein die Programmhefte der Musiktage sind ein Who is Who der Neuen Musik.

Jetzt ist sie hundert Jahre alt geworden, diese wahrhaft ehrwürdige Institution, was natürlich auch mit einem Festakt gefeiert wurde, bei dem sich Corona ausnahmsweise einmal als hilfreich erwies: Dem Umstand nämlich, dass die Veranstaltung auch gestreamt wurde, verdankt es sich, dass sie jetzt unter diesem Link als Aufzeichnung in Youtube  zur Verfügung steht. Dabei gibt ein durchaus nicht nur humorloser, circa vierminütiger Ausschnitt aus einem Dokumentarfilm über die Musiktage einen unterhaltsamen Einblick in die wunderbare Welt der Neuen Musik (ab Minute 21:00 im Video). [um]


 
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Christian Coigny hat eine beeindruckende Serie von Künstlern auf Vitra-Stühlen fotografiert. Unter anderem auch mit Billy Wilder und Jack Lemmon auf dem Bundestagsstuhl Figura. Mehr dazu demnächst in diesem Theater ...  


 
ab sofort

Alphabettes Mentorenprogramm


Mit ihrem Mentor·innen-Programm verbindet die Frauen-Typografie-Plattform Alphabettes erfahrene Kolleginnen aus den Bereichen Schrift, Typografie oder Lettering mit Unterstützung suchenden Mentees. Die Rückmeldungen der bisherigen Paarungen sind durchgängig positiv:  Selbstvertrauen und Fähigkeiten werden gestärkt und sowohl die Mentoren·innen als auch die Mentees empfanden die Beziehung gegenseitig so entwicklungsfördernd wie erfüllend. Jetzt steht das Herbstsemester kurz vor dem Start und es werden noch Mentor·innen gesucht! Eine wirklich gute Gelegenheit, etwas zu bewirken und jemandem dabei zu helfen, sich durch dieses häufig obskure Gebiet der Typografie und des Type Designs zu navigieren.


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bis 31. Dezember 2021

GRANSHAN Type Design Competition


Give Voice to Type: Die erste und einzige Organisation weltweit für non-Latin Scripts, Typography and Type Design, die GRANSHAN Foundation, ruft Schriftgestalter·innen wieder zur Einreichung ihrer Schriften in neun Schriftsprachen (von Griechisch und Russich über Arabisch, Hebräisch, Koreanisch und Chinesisch bis zu Devanagari, Bengali, Gurmukhi, Telugu, Tamil, Gujarati, Malayalam, Sinhala, Thai und Armenisch) in fünf Kategorien auf – bis zum Ende dieses Jahres. Anschließend wird eine über 50-köpfige Expert·innen-Jury für eine schriftsprachengerechte Evaluation auf höchstem Niveau sorgen – die Verkündung der Gewinner·innen ist geplant für Anfang März 2022 während der Münchner Designwoche MCBW.


Das Fundstück der Woche

 
fundstück
 

Weniges ruht so sehr in der eigenen tiefen, einer körperlich-inneren Mitte wie die Statuen des Buddha: Nam June Paik hat eine Brücke gebaut und der Transformation durch Begegnung Ausdruck gegeben. Hier auf dem Sinus-Hintergrund eines Gesellschaftliche-Mitte-Bildes.


 
 

Sie erhalten diese E-Mail an unknown@noemail.com, weil Sie sich als 8daw-Empfänger angemeldet haben, in geschäft­lichem Kontakt mit der Kochan & Partner GmbH stehen oder an einer der Veranstal­tungen der Kooperations­partner teil­genommen haben. Fügen Sie bitte die E-Mail-Adresse boris.kochan@eightdaw.com Ihrem Adress­buch oder der Liste sicherer Absender hinzu. Dadurch stellen Sie sicher, dass unsere Mails Sie auch in Zukunft erreichen. Wenn Sie 8daw künftig nicht mehr erhalten wollen, können Sie unseren Newsletter abbestellen.

 
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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Handtasche: IMAGO / photothek
Liegestühle: Jens Schicke
Plenarsaal: Times
Stühle: Ole Neitzel
Fundstück: Nam June Paik – Mine d’Art


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