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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 22. Januar 2021

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Bürgermeister des durchaus respektablen Städtchens, in dem ich lebe, hat eine erstaunliche Verwandlung durchgemacht. Gerade noch solide vollbärtig erscheint er jetzt fast unkenntlich, aber dafür umso maskentauglicher glattrasiert. Ein Anblick, der nicht nur mich als Bartträger irritiert hat, sondern offensichtlich auch seine Frau, die ihm wenig schmeichelhaft attestierte, er hätte jetzt etwas »Schelmisches oder gar Verschlagenes im Gesicht«. Müsste ich nicht eigentlich auch? ... habe ich mich sofort gefragt, wo doch die hygienische Unbedenklichkeit des Bartes so ins Gerede geraten ist?

Aber kratzt das nicht an meinem seit dreißig Jahren sorgfältig gepflegten Image – an meiner Identität womöglich? Nur, um dann auch schelmisch und verschlagen auszusehen (oder Schlimmeres), aber dafür 1a hygienisch? Andererseits wäre doch vielleicht genau jetzt der passende Zeitpunkt, um mal etwas ganz anderes auszuprobieren, einen neuen Blick auf mich zu versuchen und mich wenigstens ein ganz kleines bisschen neu zu erfinden. Ist das nicht sowieso der Megatrend schlechthin, bei Menschen, Unternehmen, ganzen Regionen und Ländern und von jeher und überhaupt in der Kunst?

Noch ringe ich um den Entschluss und wünsche Ihnen daher umso mehr ein erfindungsreiches und entscheidungsfreudiges Wochenende ...
Ulrich Müller

 

Der Bart – des Mannes Zierde. Männlichkeit soll er ausdrücken, Kraft und Willensstärke womöglich. So mancher Bartträger versteckt sich aber auch nur dahinter, heißt es. Der Deutungen gibt es viele. Zeit für einen kleinen Faktencheck und eine Kulturgeschichte des Bartes.

 

Wenn das Neuland nicht dank Angela Merkel so eine etwas eigenartige Konnotation hätte – dann wäre es ein sehr passendes Stichwort für diese 8daw-Ausgabe, auch weil Boris Kochan sich eine kleine Auszeit genommen hat – und ich ihn für zwei Wochen als Chefredakteur vertrete.


Neuerfindung mit starken Wurzeln
 

Vor 30 Jahren siedelt der schwäbische Weinbauer Friedrich Schatz nach Andalusien. Er will einen Weinberg anlegen. Ein paar Lemberger Rebstöcke hat er im Gepäck. Und seine große Liebe zum Boden. Hier im Süden Spaniens ist er trocken, reißt, bricht auf. Wo nicht bewässert wird, wächst nichts. Klimaforscher sprechen von Verwüstung. Und die Verwüstung schreitet voran. Schatz pflanzt jedoch nicht nur Rebstöcke, sondern auch Kräuter als grüne Pflanzunterlage, die den Boden mit dichtem Wurzelwerk zusammenhalten. Die Nachbarn lachen ihn aus, nennen ihn einen Verrückten, der das Unkraut stehen lässt. Heute liegen inmitten der trockenen Gegend nahe Ronda drei Hektar fruchtbares Land. Friedrich Schatz hat sie bestellt – ohne Bewässerung, ohne Spritzmittel, ohne Pestizide. Wo er vormals der einzige Winzer war, gibt es heute 25 Kolleginnen und Kollegen, eine Winzergenossenschaft und nicht nur einen großen Wein. [gw]

 

Die Initiative Große Grüne Mauer Afrika wurde schon in den 2000ern ins Leben gerufen. Von Dakar bis nach Dschibuti soll sich ein 15 km breiter und knapp 8.000 km langer, grüner Gürtel aus Bäumen und anderen Pflanzen durch die afrikanische Wüste ziehen. Damit kann die Ausbreitung der Sahara und eine weitere Wüstenbildung gebremst werden. Hungersnöten und Dürren wird so vorgebeugt. Besonders dort, wo die lokale Bevölkerung die nachhaltige Nutzung von Wäldern und Weideland übernimmt, verbessern sich die Lebensbedingungen vor Ort. Und auch im Hinblick auf den Klimawandel kann das Projekt mildernd wirken. Auf dem One Planet Summit in Paris sind im Januar 14,3 Milliarden Dollar zusammengekommen: neue grüne Kraft.


 
 

Das Theater geht weiter – und erfindet sich dabei notgedrungen neu. Unter dem Motto Resi Streamt wagt das Münchner Residenztheater erneut den Schritt in die Digitalität und realisiert Büchners Leonce und Lena in der Inszenierung von Thom Luz ausschließlich virtuell. Theater braucht Nähe, Unmittelbarkeit und volle Häuser – ebenso das störende Gehüstel im Parkett und das Pausengedränge an der Bar. Und Lampenfieber und tosenden Applaus. Aber es braucht auch den Mut weiter zu machen und in widrigen Zeiten zu zeigen: Wir sind noch da!


Raus aus dem Jogger!
 

»Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.« Mit diesem steilen Spruch hat Modezar Karl Lagerfeld 2012 höchst kontroverse Diskussionen ausgelöst. Vielleicht hatte sich der Großmeister der Haute Couture ja darüber geärgert, dass drei Jahre zuvor vier Schüler aus Österreich ihre Mitschüler·innen erfolgreich dazu überredet hatten, am 21. Januar in Jogginghosen in die Schule zu kommen, und damit ein ungeahntes Echo ausgelöst haben? 600.000 Menschen sollen es inzwischen sein, die den Tag der Jogginghose begehen und damit wohl auch so etwas wie eine Unabhängigkeit vom Diktat der Modemacher dokumentieren wollen.

Eigentlich war die Idee ja, dass sich an diesem Tag möglichst viele Menschen in Jogginghosen in der Arbeit oder der Schule versammeln oder sonstige öffentliche und halböffentliche Orte bevölkern. Das klappt im Lockdown natürlich überhaupt nicht und außerdem hängt ja sowieso schon die halbe Menschheit im Schlabberlook zu Hause rum. Hat sich der Tag der Jogginghose also womöglich überlebt? Und wäre es nicht an der Zeit, für ein paar ganz neue Ideen – zumal das Geschäft mit dem schönen Schein zum Ärger der Modeverweigerer inzwischen auch in die häusliche Gammelzone vorgedrungen ist, wie Empfehlungen renommierter Modezeitschriften nahelegen? Harper’s Bazaar etwa droht gleich mit neuen Stilregeln, die man im Homeoffice beachten sollte. Echt jetzt? Wie wäre es stattdessen damit, mal selbst neue Regeln zu erfinden – jeder für sich – und sich darüber auch neu zu fragen: Wer bin ich eigentlich? Übrigens – für alle Apologeten vermeintlich anarchischer Qualitäten des Joggers: Auch die Jogginghose ist natürlich nur eine Modeerscheinung, vielleicht nicht die adretteste, aber praktisch ist sie halt schon. [um]


 
 

Leonce und Lena ausgerechnet in Unterwäsche und Jogginghose: Das Streben nach Höherem kennt keinen Kleiderzwang.


Kunstwandlung
 

Plopppp! – ein Mensch lässt einen trockenen Schwamm in einen Eimer mit Wasser fallen. Robert Filliou imaginiert so die Geburt der Kunst vor über einer Million Jahren und initiierte damit ein alljährliches Geburtstagsritual mit Straßenfesten und Kunstaktionen, wie das Abhängen von Bildern in Museen, denn als Fluxus-Künstler galt ihm die Idee mehr als das Werk. Lange vor Fillious Zeit hatte es schon den Protagonisten von Honoré de Balzacs Erzählung Das unbekannte Meisterwerk in den Wahnsinn getrieben, dass er jenes ungreifbare Absolute der Kunst mit einem Frauenporträt jenseits von Form und Perspektive transzendieren wollte – und im (erschreckten) Auge des Betrachters nur Chaos hinterließ. Der K(r)ampf zwischen Konzept- und Objektkunst im 20. Jahrhundert offenbarte sich schließlich als Geburtswehe einer philosophischen Kunst … oder künstlerischen Philosophie?

Wo doch schon der Psychologe Abraham Maslow in seiner Bedürfnispyramide die Ästhetik und damit nichts weniger als die Kunst als einen der Wachstumsfaktoren auf die existenziellen Bedürfnisse aufsetzt, quasi als Basis der Selbstaktualisierung, im Sinne einer Ausschöpfung der eigenen Potenziale. Und nicht umsonst ist auch das Coaching in den letzten Jahrzehnten – sei es im Leistungssport oder der Entwicklung von Führungskräften im Management – auf der philosophischen Ebene angekommen. Weg von der freudlosen Selbstoptimierung und hin zur Erkenntnis, dass der Wert des Menschen nicht in seiner Leistung, sondern in seinem Menschsein liegt. Eine Weisheit, zu der wir durchaus noch alle gelangen können, denn die Identität des Einzelnen erweist sich als durchaus wandlungsfähig. Die Persönlichkeit von Menschen, so legen Experimente nah, entwickelt sich bis zum frühen Erwachsenenalter, stabilisiert sich danach und wird ab Fünfzig wieder fluide, wobei jeder die ihn prägenden Veränderungen selbst anstößt. Schlau eingerichtet von der Natur: Weil Wandel und Vielfalt die Überlebensfähigkeit einer Spezies sichern. [sib]

 

Robert Filliou mag ja mit manchen Traditionen gebrochen haben – aber so weit ging er dann doch nicht, dass er Geburtstagsgeschenke abgeschafft hätte. Sie sind sogar Hauptteil des Arts Birthday. So bescherte Frankreich 2007 den Parisern etwa eine mitternächtliche Schreiminute. Und Radiosender verschenken Klangkunst: in diesem Jahr zum Beispiel die Klangperformance der Vokalistin Stine Janvin. Sie trägt traditionelle norwegische Lokk-Gesänge aus den Bergen in die urbanen Häuserschluchten und modelliert in schwindelerregender Tonhöhe Melodien, die von menschlicher Konnotation befreit sind. Zu hören heute, am Freitag, den 22. Januar 2021 im Deutschlandfunk.


 
 

Wer bin ich – und warum eigentlich? Regisseur Thom Lutz beschäftigen die existenziellen Fragen, die Büchner in Leonce und Lena stellt und er wirft in seiner Inszenierung viele neue Fragen auf. Möglichen Antworten verweigert er sich allerdings – frei nach John Cage, der einmal gesagt hat: »Das ist eine wunderbare Frage, die ich nicht mit einer Antwort verderben möchte.«


Das Fundstück der Woche

 
 

»Jedes individuelle Weltbild ist eine einzigartige Collage und jeder vermeintlich wohl angelegte Nutzgarten des Wissens gleicht bei Lichte besehen einer wildwüchsigen Wiese, auf der der Wind alles Mögliche und Unmögliche zusammengeweht hat, das sich jetzt hier tummelt, interagiert und kreuzt.« So jedenfalls klingt die leicht überhöhte Schilderung des Künstler, Theoretiker und Psychologen Reinhart Buettner, wenn er Collagen und Wissen ähnlich mixt wie es in diesem Meme passiert: Van Goghs Postimpressionismus trifft auf Clint Eastwoods wilden Westen. Oder Depression auf Abenteurertum, Sonnenblumen in Arles auf Kakteen in der Wüste von Nevada, Absinth auf Whiskey ... die Luft flirrt, die Gedanken oszillieren und mitunter entsteht dabei ganz unerwartet etwas sehr Neues.


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel], Nina Shell [nsh], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis
Bild 1:
v.l. Elias Eilinghoff, Lisa Stiegler © Sandra Then
Bild 2:
v.l. Daniele Pintaudi, Barbara Melzl, Elias Eilinghoff, Steffen Höld, Lisa Stiegler © Sandra Then
Bild 3:
v.l. Elias Eilinghoff, Barbara Melzl, Steffen Höld, Daniele Pintaudi, Annalisa Derossi, Lisa Stiegler
© Sandra Then
Bild 4:
v.l. Steffen Höld, Barbara Melzl, Daniele Pintaudi, Lisa Stiegler, Elias Eilinghoff © Sandra Then
Bild 5:
Courtesy of Imgur


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