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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 22./23. Oktober 2021

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

gestern bin ich aus Versehen mal wieder in einen dieser Paläste gestolpert, wie sie Venedig zuhauf hat. Angelockt von einem eher beiläufig am Straßenrand abgestellten Ausstellungsplakat einfach rechts in eine kurze Gasse hinein, an deren Ende sich nach einem Marmorportal ein beeindruckender Innenhof öffnet – der Palazzo Grimani di Santa Maria Formosa. Darin eine bedeutende Skulpturensammlung und: Georg Baselitz mit einer Bildserie namens Archinto. Im Zusammenspiel faltet sich das ganze Themenspektrum dieser Stadt auf: Liebe, Eros, Treue, Träume, Sehnsüchte, Trennungsschmerz, Verwesung und Tod. Die Laokoon-Gruppe begegnet hier der Geschichte Casanovas (der in seinem Pamphlet Né Amori, né Donne behauptet, Sohn eines Grimani gewesen zu sein), auf den sich wiederum Baselitz mit seiner abstrakten, ungewöhnlich farbigen Malerei bezieht: »So bunte Bilder, wie die Grimadi-Bilder, habe ich noch nie gemalt, also?« Dieser Palast ist für ihn »einfach zu viel für Visionäre. Auch zu viel für Rückwärtsdenker, Historiker, Architekten, Maler, Stukkateure.« Gräbt er doch seine Themen aus der Realität aus und abstrahiert sie rituell …

»Jede neue Situation verlangt eine neue Architektur« – mit diesen Worten des französischen Architekten und Pritzker-Preisträgers Jean Nouvel im (nach?)pandemischen Gepäck bin ich eigentlich wegen der Architekturbiennale hier: How will we live together? Kaum ein Ort scheint mir geeigneter, dieser Frage nachzugehen, legen sich doch hier Vorstellungen und Wirklichkeiten, kühne Pläne und Vergänglichkeit in- und übereinander – gerade jetzt, im Spätherbst im Nebel: »Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder, / der alle aufgetauchten Tage fängt. / Die gläsernen Paläste klingen spröder / an deinen Blick. Und aus den Gärten hängt / der Sommer wie ein Haufen Marionetten / kopfüber, müde, umgebracht.«

Rainer Maria Rilke ist überaus hilfreich, wenn man an diesem Ort versucht, der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachzugehen, »... wenn man das Wasser mit scharfen Rändern die Paläste berühren sieht, die ganz aus Willen sind, aus Widerstand, aus Erfolg, und wenn man über der Pracht des Platzes das Arsenal nicht übersieht, das Wälder in Flotten verwandelt hat und die Last der Flotten in die Flügel eines Siegs«. Man erschrickt »vor der Fülle der Aktion, die hier hier zusammengekommen ist und man fühlt sie immer noch dasein, auffordernd und beunruhigend, immens verpflichtend.« Diese Verpflichtung ist sehr zu spüren, heute jetzt und hier … 

Herzlich
Boris Kochan

 

Ein anderer Venedig-Gänger, der russisch-amerikanische Dichter und Nobelpreisträger für Literatur Joseph Brodsky, schreibt in seinen kunstvoll aufeinander bezogenen 48 Kurzkapiteln in Ufer der Verlorenen über den Winter in Venedig Sätze wie: »In dem sie das Wasser striegelt, hebt die Stadt das Aussehen der Zeit, verschönert sie Zukunft.« Der Nebel und die Harmonie lackierter Oberflächen lehren ihn, »wie Wasser empfindet, wenn es von Wasser liebkost wird«: »Wasser ist gleich Zeit und bietet der Schönheit ihr Double.« Mit anderen Worten: Die Zukunft wird poetisch sein. Oder nicht!

 

X-Phase: Die neuerliche 8daw-Experimentierphase verlockt uns dazu, neben Texten vermehrt auch Audio und Video zu integrieren: Gerade Venedig ist eben auch eine ganz spezielle Hör-Erfahrung, der Klang der Stadt fast so eine Art Corporate Sound. Ulrich Müllers Klangcollage Der Atem der Stadt ist speziell für diese 8daw-Ausgabe entstanden – und nicht nur in seinem Klang-Artikel verlinkt, sondern auch wie die anderen Videobeiträge auf dem neuen 8daw-YouTube-Channel zu finden.


Der Atem der Stadt
Eine venezianische Klangcollage von Ulrich Müller
 
 

Wasser, Stimmen, Schritte – diese Worte fielen immer wieder, wenn der große venezianische Komponist Luigi Nono eine wesentliche Inspirationsquelle seines Schaffens zu beschreiben versuchte. In der Tat hat Venedig eine einmalige Akustik, vielleicht wegen des Fehlens des Autoverkehrs, das im Zusammenspiel mit den engen Gassen, in denen sich der Schall am Kopfsteinpflaster und den Hauswänden bricht, immer wieder einen Höreindruck erzeugt, als befände man sich im Inneren eines Gebäudes. Innen und Außen, Öffentlichkeit und Privatheit, Leben und Theater verschmelzen in Venedig auf einmalige Art und Weise miteinander, die sich unmittelbar auch in den Klängen der Stadt widerspiegelt. Diese kleine Klangcollage ist binaural abgemischt, sodass sich die besondere Räumlichkeit der Klänge unmittelbar mitteilt, wenn man die knapp 8-minütige Collage über Kopfhörer hört: Der Atem der Stadt – Eine venezianische Klangcollage von Ulrich Müller. Mit Bildern von Pavlo und Boris Kochan.


Süßes Verirren
 

In Venedig versinken, hineinströmen in die Umarmung aus Orient und Okzident, ins Gassengewirr fließen mit seinen unzähligen Geschichten. Sie warten hinter orientalischen Fensterbögen, unter schattigen Arkaden, im schaukelnden Glitzern der Kanäle. Der Blick legt sich auf rostige Gartentore, brechende Reliefs, auf die strahlenden Farben der in die Lagune gerammten Holzpfähle. Vom Markt her weht der Ruf der Händler, der Duft aus einer Bäckerei schwimmt vorbei. Auf dem Trottoir hallen noch die Schritte der Dogen, von Casanova, Goethe, Vivaldi oder Tizian. Der Kaufmann von Venedig biegt kurz vor einer Trattoria ab. Der Tod in Venedig bleibt stehen. Gut, wer seinen Stadtplan vergessen hat und sich treiben lassen kann ins süße Verirren, Verwirren, Wundern. Paläste, Kirchen, Hotels, auch Wegweiser tauchen ohnehin wie von selbst auf.

Neubauten, Kaufhäuser oder Autostaus werden Sie in Venedig kaum stören. Man ist zu Fuß oder per Vaporetto unterwegs. Wer bis zum 21. November, dem Ende der 17. Architekturbiennale, durch die Gassen stromert, kann bis ins Jahr 2038 gelangen. Auch das Biennalemotto, How will we live together?, weist in die Zukunft. Im Deutschen Pavillon entwirft das Kuratorenteam unter dem Titel 2038 – Die neue Gelassenheit eine Zukunft, in der es gelungen sein wird, Antworten auf die größten Fragen unserer Zeit zu finden. Die Wände des Pavillons sind – mit Ausnahme von aufgebrachten QR-Codes – vollkommen leer: Startbahn für eine filmische Reise ins Jahr 2038. So sagt es der Co-Kurator Olaf Grawert: »2038 wirft einen optimistischen Blick in die Zukunft, denn wir haben sie selbst in der Hand.« [gw]


Ein Häppchen Tod als Gaumenkitzel
 

Tote Tauben, Ratten, Dreck, Nepp – die Venedig-Plakate von Oliviero Toscani, anti-werblich. Gestank, Fäulnis, Verwesung – das Stimmungsbild, das Thomas Mann in seinem Paradestück der Decadence Tod in Venedig zeichnet: anti-moralisch, anti-bürgerlich. Als dramatische Kulisse ist die Stadt immer gut: sei es als Sterbeort Richard Wagners oder als Drehort des Nicolas-Roeg-Klassikers Wenn die Gondeln Trauer tragen. Wobei das Schwarz der Gondeln genauso wie deren Abmessungen eher weniger traurig sind, sondern politischer Wille des 16. Jahrhunderts: die venezianischen Verwaltungsbeamten Provveditori sopra le pompe haben so mit ihrer regulatorischen Kraft die aufkommende, äußerst verschwenderische Pracht beim Bau der Gondeln erfolgreich unterbunden. Und ganz nebenbei eines der zentralen Erkennungsmerkmales geschaffen, nach denen andere Städte mit großem Marketingaufwand so verzweifelt suchen: identitätsstiftend und imagebildend.

Wie die Farbgebung, so sind auch die wirtschaftlichen Probleme geblieben – wären da nicht in coronafreien Zeiten die Touristen, die den vielbeschworenen morbiden Charme so lieben. Dieser fragwürdige Zauber, der aus der Serenissima, der Durchlauchtigsten, die Morbidezza macht. Was auch sehr schön passt, steht der Begriff in der Malerei doch für Weichheit und Zartheit, in der Moralphilosophie aber für Brüchigkeit.

Inzwischen gibt es Sticker mit Totenschädel, über denen sich Selfiesticks kreuzen – aber auch diese sind schon wieder so schick geraten, dass Touristen sie gerne fotografieren. Obwohl die Einheimischen sich damit doch gegen unbezahlbaren Wohnraum wehren, weil Airbnb den Vermietern ein Vielfaches einbringt; gegen die Kreuzfahrtschiffe, deren Vibrationen die Fundamente ihrer Stadt zerrütten und gegen die Millionen Menschen, die wie Acqua alta Gassen und Plätze überschwemmen, um in Zwei-Stunden-Slots ihre innere Leere mit einem sehr vergänglichen Kultur-Shot zu füllen. Eine ganz neue Art der Melancholie macht sich breit. Das Zeitalter der Dekadenz war mit Manns Novelle höchstens in der Literatur zu Ende ... [sib]

 

Wie so häufig steht auch hier Wesentliches im Kleingedruckten: Lösungsansätze gegen Overtourism wie zum Beispiel das erwogene generelle Eintrittsgeld für die Lagunenstadt dürfte gut betuchte Kreuzfahrende kaum abhalten. Wie wäre es hingegen mit einem Fragebogen, mit dem Reisende ihre Qualifikation vor einem Venedigbesuch nachweisen müssen – inkl. der nötigen Softskills für nachhaltiges Benehmen? Natürlich viel zu aufwändig! Aber wie wäre es damit, nur noch ausgezeichneten Reiseveranstaltern mit ihren Gruppen Zutritt zu gewähren? Die dann auch wieder ganz entspannt in ihrer schwarzen Gondel durch die Kanäle gleiten können und dem nur noch vordergründig schwermütigen Vorrei morire ihres Gondoliere lauschen …


Sehen heißt glauben …
Statuen und Fresken in Venedig
 
 
 
 
 
 

Venezianische 8daw-Streifzüge anlässlich der Architelturbiennale – und immer wieder Begegnungen mit Sätzen aus Nicolas Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen: »Man sagt: Sehen heißt glauben. Aber nur ein kurzer Moment trennt die Vergangenheit von der Zukunft. Dazwischen liegt die Gegenwart. Ein dünner Lebensfaden im Strang des Todes.« 


Das Fundstück der Woche

 
 

Sehen heißt glauben: Im bisher nur für WINDOWS-Rechner verfügbaren Spiel Sophia the Traveler wurden insgesamt wurde mehr als 1.800 Charakter-Assets, über 300 Charakter-Animationen, mehr als 100 Sequenz-Animationen, über 100 Gebäude und fast 300 Soundeffekte integriert, um ein möglichst lebensechtes Venedig nachzubilden. Die Spielautorin schreibt dazu: »Für mich ist Venedig eine der romantischsten Städte der Welt. Ich erinnere mich noch daran, wie ich den Liebesfilm Everyone says I love you angeschaut habe, als ich noch sehr jung war. Von da an wollte ich immer Venedig besuchen. Aber leider hat sich die Reise aus verschiedenen Gründen nie ergeben. Es stellt sich die Frage, wie ich dieses Spiel machen kann, ohne tatsächlich dort gewesen zu sein. Drei Jahre lang haben mir Google Maps und zahlreiche Reisebücher geholfen, jede Ecke von Venedig zu sehen. Und jetzt haben wir ein Mädchen namens Sophia erschaffen, das das Leben, die Musik und gutes Essen liebt. Ich hoffe, dass sie uns alle durch dieses Spiel nach Venedig bringen wird.«


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Pavlo und Boris Kochan
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Fundstück
Migo Games – Thermite Games


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