facebook
twitter
linkedin
instagram

web view
 
Headerbild
8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 26. November 2021

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

schauen und lesen auf eigene Gefahr! Diesen Satz, der Tomi Ungerers erotischem Werk Totempole als Verpflichtungsschein (!) beigelegt wurde, möchte ich schon seit geraumer Zeit den Dogmatikern und großen Moralisten jeglicher – also sowohl rechter wie linker – Prägung entgegenhalten, die sich in Verbotstiraden ergehen und alles an die Cancel-Culture-Wand stellen, was nicht ihrem normativen Verständnis der Welt entspricht. Einen Schritt zurück bitte, Überblick, Gelassenheit und Toleranz gewinnen!

Mehr Fortschritt wagen ist das Koalitionspapier der voraussichtlich neuen Bundesregierung überschrieben – es wird interessant sein zu beobachten, wie sich Fortschritt und Wagnis paaren und relativieren. Lauert doch in dem kleinen Wort Mehr die eigentliche Herausforderung: Denn auch hier geht es um den Ausgleich, um das Sowohl-als-auch. Sogar der stets um Zuspitzung wenig verlegene Gabor Steingart schreibt in seinem heutigen Morning Briefing so anerkennend wie fordernd über den designierten neuen Wirtschaftsminister: Robert Habeck »ist jetzt der Lobbyist der Bäume und der Familienunternehmer. Er muss – das ist die neue, die wilde Jobbeschreibung – Wald und Wall Street gemeinsam denken. Er muss Gier und Genügsamkeit austarieren, das Fortschrittsdenken der Wirtschaft und die Sehnsucht der Natur nach Ruhe und Balance zu einer Synthese vereinen. Sein neues Superministerium darf eben beides nicht sein: keine Tochtergesellschaft des Status quo und zugleich eben auch kein Abrissunternehmen.«

Vielleicht hilft zur Gelassenheit ja die überraschende Berufung von Claudia Roth zur Staatsministerin für Kultur und Medien, die als Managerin von Ton Steine Scherben in den 1980er Jahren noch für Keine Macht für niemand und diesen Songtext stand: »Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen / Kommt zusammen, Leute, lernt euch kennen / Du bist nicht besser als der neben dir / Keiner hat das Recht, Menschen zu regieren«. Fast schon ein echter Ungerer-Salto!

Herzlich
Boris Kochan

 

Unsere Illustratorin Martina Wember verneigt sich in dieser 8daw-Ausgabe auf ihre Weise vor dem großen Kollegen Tomi Ungerer, der am Sonntag 90 Jahre alt geworden wäre: Mit vier Bildern unter dem Titel seines in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangenen Lebensmottos Expect the Unexpected!


 
 

Expect the Unexpected I


Der Gang zwischen den Stühlen
 

Man sollte nicht über Ungerer schreiben. Nichts, was man über ihn schreiben könnte, ist so witzig, tiefsinnig, emotionsgeladen, spannend, absurd wie er selbst. Wer ihn nicht persönlich kannte und recherchieren muss, ist bald müde von den monoton sich wiederholenden Details seiner eigentlich lesenswerten Lebensgeschichte, stolpert dabei aber begierig von Zitat zu Zitat, aufmerksam, schmunzelnd, nachdenklich, von allem etwas. Warum er sich zwischen den Stühlen so wohl gefühlt hat, liegt nach seiner eigenen Aussage daran, dass man nur dort »einen Stuhlgang haben« könne. Und mit Stolz merkt er an: »Keiner hat die Kinderbuchtabus so zerschmettert wie ich.« Gemeinhin ungeliebte Tiere sind da die Stars, Bösartigkeit und Unrecht die Themen, und während er hier die Hans-Christian-Andersen-Medaille für diese Werke erhielt, standen seine Bücher in den USA auf dem Index: zu offen, zu provokativ – Schnaps auf dem Mittagstisch? Eine Schweinefamilie, die ihre Münzen in Spar-Menschen wirft? Geschwister, die Messer und Gabel wetzen, während Mama den Säugling im Arm hält?

Und wie passt seine Liebe zum Kinderbuch mit seinen Erotikzeichnungen zusammen, die man im Straßburger Tomi-Ungerer-Museum im Untergeschoss ausgestellt hat, damit Eltern ihre Kinder daran vorbeischleusen können? Sein Statement: »Wenn die Leute nicht ficken würden, dann gäbe es keine Kinder. … Ich zeichne beides: das Ficken und die Kinder.« Wobei er sich dabei nicht aufs Zeichnen beschränkt hat. »… inzwischen sind all meine erotischen Fantasien realisiert; kürzlich habe ich meine alten Sexfilme auf dem Herd verbrannt – und die Bratpfanne kommt in mein Museum,« sagte er im STERN-Interview. Ungerer liebte solche Absurditäten. Weshalb er mit besonderer Freude die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Karlsruhe quittierte: »Prima, ich habe ja nicht mal Abitur.« [sib]


 
 

Expect the Unexpected II


Pandämonium des Irrsinns
 

»Der kalte Krieg ist heiß geworden!« Wie aus dem Umfeld hochrangiger Militärs zu vernehmen ist, wird davon ausgegangen, dass der russische Geheimdienst Versuche unternimmt, durch Fluoridierung des Trinkwassers die Körperflüssigkeit von US-Bürgern zu zersetzen.

Glücklicherweise ist all das nur in einem Film geschehen, den das internationale Filmlexikon ein »Pandämonium des Irrsinns« nennt. Die Rede ist von Stanley Kubricks Antikriegsfilm Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben aus dem Jahr 1964. Ein irrer, ein prophetischer Film über die destruktive Macht von Verschwörungsfantasien, zu dessen Bebilderung auch Tomi Ungerer beigetragen hat. Von ihm nämlich stammt das Plakat für den Deutschen Vertrieb. Ungerer, der als kleiner Junge Deutsch lernen musste, nachdem die Wehrmacht das Elsass besetzt hatte und der nach dem Krieg – als dort wiederum das Deutsche verboten wurde –, sich mühsam seiner französischen Sprachwurzeln zurückerinnern musste. Multiple Entwurzelung hat Arno Frank das in seinem hellsichtigen Nachruf auf Ungerer genannt.

Der wurde als junger Mann ein Heimatsuchender, ein moderner Odysseus, der sich auf Abenteuer- und Irrfahrt begab und für kurze Zeit sogar bei der Fremdenlegion strandete. Den Irrsinn von Krieg und Kriegshandwerk, er hat ihn zur Genüge erfahren und ihn in seinen Zeichnungen mit gnadenloser Schärfe zu demaskieren gewusst. »Ich muss die Waffen des Feindes benutzen, wenn ich ihn vernichten will«, sagt Ungerer über sein antifaschistisches Oeuvre – und dass ihn paradoxerweise ausgerechnet ein Joseph Goebbels auf die Idee gebracht habe, Faschismus und Gewalt mit (Bild-)Gewalt zu bekämpfen. Der Irrsinn geht dennoch weiter um und mit ihm die Gewalt. Der sind mittlerweile freilich neue Dämonen zugewachsen – kaum greifbar, in dunklen Nischen der neuen Medien hausend. Umso wichtiger wird Ungerers aufklärerisches Werk gerade jetzt – oder um es noch einmal mit Kubrick zu sagen: »Zu dem Spiel gehören zwei, Freundchen!« [um]

 

Gleich in drei Rollen brilliert der Brite Peter Sellers in Kubricks Dr. Seltsam. Für das genialische Arbeitstier Sellers war das indes noch längst nicht genug. So trat er in der Nazikomödie Weiche Betten, harte Schlachten, in der die Grenzen des guten Geschmacks einigermaßen strapaziert wurden, gar in sechs verschiedenen Rollen auf. Wahrscheinlich Weltrekord. In Erinnerung wird er aber bleiben als der einzig wahre Inspektor Clouseau, den es je gab.


 
 

Expect the Unexpected III


Der Spiegelmensch

Vieles gibt’s, das jederzeit vier Jahre alte Kinder freut. Crictor, die gute Schlange. Sechs kleine Schweine. Rufus, die farbige Fledermaus. Emil, der hilfreiche Tintenfisch. Otto. Autobiographie eines Teddybären. Schutzengel der Hölle. Ho Ho Hochzeit. Kein Kuss für Mutter. Die blaue Wolke. Das Kamasutra der Frösche. Tomi Ungerers geheimes Skizzenbuch. Der Hut. Papa Schnapp und seine noch-nie-dagewesenen Geschichten. Schnecke, wo bist du?

 

Über 150 Bücher hat Tomi Ungerer geschrieben – jeder Titel ein kleines Sprachkunststück in sich. Hier eine kleine Auswahl ... [gw]


 
 

Expect the Unexpected IV


Kalender
Veranstaltungen, Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion
 

27. November 2021 – 24. April 2022

It’s all about Freedom


Die Hamburger Deichtorhallen präsentieren in der Sammlung Falckenberg einen umfassenden Querschnitt des künstlerischen Schaffens des Zeichners und Kinderbuchautoren Tomi Ungerer: TOMI UNGERER – IT’S ALL ABOUT FREEDOM.


https://assets.eightdaw.com/bilder/kw47/kalendar-1.jpg

nur bis Montag, 29. November 2021

GRANSHAN Competition


Machen wir doch den schrecklichen Black Friday einfach zum buntesten Freitag aller Zeiten! Der GRANSHAN Type Design Wettbewerb bietet für nur vier Tage ein Special: zwei Einsendungen zum Preis von einer ...


Das Fundstück der Woche

 
 

Stolz geschwellte, nein viel besser: stolz geballte Brust mit Bierdose und Badeschlappen zwischen Weihnachtsbaum und Ordnungshüter – jeder feiert den ersten Advent auf seine Weise. Auf der Spurensuche zu den Hintergründen dieses Fundstücks der Woche sind wir nicht so recht fündig geworden – auch die Bildbeschriftung des Originals The Caped Cop and the Badonkah Bearer, protectors of the motherland hilft nicht wirklich weiter. Der zwischenzeitlich vermutete, versteckte Hinweis auf den schrecklichen, völlig aus der Zeit gefallenen und dringend zu cancelnden Song Honky Tonk Badonkadonk des uns bis eben auch noch unbekannten Trace Adkins erwies sich als kaum haltbar. Für sachdienliche Hinweise sind dankbar ...


 
 

Sie erhalten diese E-Mail an unknown@noemail.com, weil Sie sich als 8daw-Empfänger angemeldet haben, in geschäft­lichem Kontakt mit der Kochan & Partner GmbH stehen oder an einer der Veranstal­tungen der Kooperations­partner teil­genommen haben. Fügen Sie bitte die E-Mail-Adresse boris.kochan@eightdaw.com Ihrem Adress­buch oder der Liste sicherer Absender hinzu. Dadurch stellen Sie sicher, dass unsere Mails Sie auch in Zukunft erreichen. Wenn Sie 8daw künftig nicht mehr erhalten wollen, können Sie unseren Newsletter abbestellen.

 
ANMELDEN
 

Wurde Ihnen dieser Newsletter weiter­geleitet? Jetzt anmelden!


IHRE MEINUNG
 

Wie fanden Sie 8daw heute? Geben Sie uns Ihre Rückmeldung.

 
WEITEREMPFEHLEN
 

Empfehlen Sie 8daw von Boris Kochan und Freunden weiter!


FOLGEN
 
facebook

Facebook

twitter

Twitter

linkedin

Linkedin

instagram

Instagram


TEILEN
 
facebook

Facebook

twitter

Twitter

linkedin

Linkedin

whatsapp

WhatsApp

xing

XING

e-mail

E-Mail

 
 

In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Kalender – It’s all about Freedom ©Tomi Ungerer Estate/Diogenes Verlag AG, Zürich
Fundstück – Courtesy of Imgur


Datenschutz | Kontakt | Impressum
© 2021 Boris Kochan