ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel
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mit Boris Kochan und Freunden am 26. November 2021 |
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Sehr geehrte Damen und Herren,
schauen und lesen auf eigene Gefahr! Diesen Satz, der Tomi Ungerers erotischem Werk Totempole als Verpflichtungsschein (!) beigelegt wurde, möchte ich schon seit geraumer Zeit den Dogmatikern und großen Moralisten jeglicher – also sowohl rechter wie linker – Prägung entgegenhalten, die sich in Verbotstiraden ergehen und alles an die Cancel-Culture-Wand stellen, was nicht ihrem normativen Verständnis der Welt entspricht. Einen Schritt zurück bitte, Überblick, Gelassenheit und Toleranz gewinnen! Mehr Fortschritt wagen ist das Koalitionspapier der voraussichtlich neuen Bundesregierung überschrieben – es wird interessant sein zu beobachten, wie sich Fortschritt und Wagnis paaren und relativieren. Lauert doch in dem kleinen Wort Mehr die eigentliche Herausforderung: Denn auch hier geht es um den Ausgleich, um das Sowohl-als-auch. Sogar der stets um Zuspitzung wenig verlegene Gabor Steingart schreibt in seinem heutigen Morning Briefing so anerkennend wie fordernd über den designierten neuen Wirtschaftsminister: Robert Habeck »ist jetzt der Lobbyist der Bäume und der Familienunternehmer. Er muss – das ist die neue, die wilde Jobbeschreibung – Wald und Wall Street gemeinsam denken. Er muss Gier und Genügsamkeit austarieren, das Fortschrittsdenken der Wirtschaft und die Sehnsucht der Natur nach Ruhe und Balance zu einer Synthese vereinen. Sein neues Superministerium darf eben beides nicht sein: keine Tochtergesellschaft des Status quo und zugleich eben auch kein Abrissunternehmen.« Vielleicht hilft zur Gelassenheit ja die überraschende Berufung von Claudia Roth zur Staatsministerin für Kultur und Medien, die als Managerin von Ton Steine Scherben in den 1980er Jahren noch für Keine Macht für niemand und diesen Songtext stand: »Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen / Kommt zusammen, Leute, lernt euch kennen / Du bist nicht besser als der neben dir / Keiner hat das Recht, Menschen zu regieren«. Fast schon ein echter Ungerer-Salto! Herzlich Boris Kochan |
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Unsere Illustratorin Martina Wember verneigt sich in dieser 8daw-Ausgabe auf ihre Weise vor dem großen Kollegen Tomi Ungerer, der am Sonntag 90 Jahre alt geworden wäre: Mit vier Bildern unter dem Titel seines in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangenen Lebensmottos Expect the Unexpected! |
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Der Gang zwischen den Stühlen |
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Man sollte nicht über Ungerer schreiben. Nichts, was man über ihn schreiben könnte, ist so witzig, tiefsinnig, emotionsgeladen, spannend, absurd wie er selbst. Wer ihn nicht persönlich kannte und recherchieren muss, ist bald müde von den monoton sich wiederholenden Details seiner eigentlich lesenswerten Lebensgeschichte, stolpert dabei aber begierig von Zitat zu Zitat, aufmerksam, schmunzelnd, nachdenklich, von allem etwas. Warum er sich zwischen den Stühlen so wohl gefühlt hat, liegt nach seiner eigenen Aussage daran, dass man nur dort »einen Stuhlgang haben« könne. Und mit Stolz merkt er an: »Keiner hat die Kinderbuchtabus so zerschmettert wie ich.« Gemeinhin ungeliebte Tiere sind da die Stars, Bösartigkeit und Unrecht die Themen, und während er hier die Hans-Christian-Andersen-Medaille für diese Werke erhielt, standen seine Bücher in den USA auf dem Index: zu offen, zu provokativ – Schnaps auf dem Mittagstisch? Eine Schweinefamilie, die ihre Münzen in Spar-Menschen wirft? Geschwister, die Messer und Gabel wetzen, während Mama den Säugling im Arm hält? Und wie passt seine Liebe zum Kinderbuch mit seinen Erotikzeichnungen zusammen, die man im Straßburger Tomi-Ungerer-Museum im Untergeschoss ausgestellt hat, damit Eltern ihre Kinder daran vorbeischleusen können? Sein Statement: »Wenn die Leute nicht ficken würden, dann gäbe es keine Kinder. … Ich zeichne beides: das Ficken und die Kinder.« Wobei er sich dabei nicht aufs Zeichnen beschränkt hat. »… inzwischen sind all meine erotischen Fantasien realisiert; kürzlich habe ich meine alten Sexfilme auf dem Herd verbrannt – und die Bratpfanne kommt in mein Museum,« sagte er im STERN-Interview. Ungerer liebte solche Absurditäten. Weshalb er mit besonderer Freude die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Karlsruhe quittierte: »Prima, ich habe ja nicht mal Abitur.« [sib] |
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»Der kalte Krieg ist heiß geworden!« Wie aus dem Umfeld hochrangiger Militärs zu vernehmen ist, wird davon ausgegangen, dass der russische Geheimdienst Versuche unternimmt, durch Fluoridierung des Trinkwassers die Körperflüssigkeit von US-Bürgern zu zersetzen. Glücklicherweise ist all das nur in einem Film geschehen, den das internationale Filmlexikon ein »Pandämonium des Irrsinns« nennt. Die Rede ist von Stanley Kubricks Antikriegsfilm Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben aus dem Jahr 1964. Ein irrer, ein prophetischer Film über die destruktive Macht von Verschwörungsfantasien, zu dessen Bebilderung auch Tomi Ungerer beigetragen hat. Von ihm nämlich stammt das Plakat für den Deutschen Vertrieb. Ungerer, der als kleiner Junge Deutsch lernen musste, nachdem die Wehrmacht das Elsass besetzt hatte und der nach dem Krieg – als dort wiederum das Deutsche verboten wurde –, sich mühsam seiner französischen Sprachwurzeln zurückerinnern musste. Multiple Entwurzelung hat Arno Frank das in seinem hellsichtigen Nachruf auf Ungerer genannt. Der wurde als junger Mann ein Heimatsuchender, ein moderner Odysseus, der sich auf Abenteuer- und Irrfahrt begab und für kurze Zeit sogar bei der Fremdenlegion strandete. Den Irrsinn von Krieg und Kriegshandwerk, er hat ihn zur Genüge erfahren und ihn in seinen Zeichnungen mit gnadenloser Schärfe zu demaskieren gewusst. »Ich muss die Waffen des Feindes benutzen, wenn ich ihn vernichten will«, sagt Ungerer über sein antifaschistisches Oeuvre – und dass ihn paradoxerweise ausgerechnet ein Joseph Goebbels auf die Idee gebracht habe, Faschismus und Gewalt mit (Bild-)Gewalt zu bekämpfen. Der Irrsinn geht dennoch weiter um und mit ihm die Gewalt. Der sind mittlerweile freilich neue Dämonen zugewachsen – kaum greifbar, in dunklen Nischen der neuen Medien hausend. Umso wichtiger wird Ungerers aufklärerisches Werk gerade jetzt – oder um es noch einmal mit Kubrick zu sagen: »Zu dem Spiel gehören zwei, Freundchen!« [um] |
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Gleich in drei Rollen brilliert der Brite Peter Sellers in Kubricks Dr. Seltsam. Für das genialische Arbeitstier Sellers war das indes noch längst nicht genug. So trat er in der Nazikomödie Weiche Betten, harte Schlachten, in der die Grenzen des guten Geschmacks einigermaßen strapaziert wurden, gar in sechs verschiedenen Rollen auf. Wahrscheinlich Weltrekord. In Erinnerung wird er aber bleiben als der einzig wahre Inspektor Clouseau, den es je gab.
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Expect the Unexpected III |
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Vieles gibt’s, das jederzeit vier Jahre alte Kinder freut. Crictor, die gute Schlange. Sechs kleine Schweine. Rufus, die farbige Fledermaus. Emil, der hilfreiche Tintenfisch. Otto. Autobiographie eines Teddybären. Schutzengel der Hölle. Ho Ho Hochzeit. Kein Kuss für Mutter. Die blaue Wolke. Das Kamasutra der Frösche. Tomi Ungerers geheimes Skizzenbuch. Der Hut. Papa Schnapp und seine noch-nie-dagewesenen Geschichten. Schnecke, wo bist du? |
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Über 150 Bücher hat Tomi Ungerer geschrieben – jeder Titel ein kleines Sprachkunststück in sich. Hier eine kleine Auswahl ... [gw]
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Veranstaltungen, Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion |
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27. November 2021 – 24. April 2022 |
Die Hamburger Deichtorhallen präsentieren in der Sammlung Falckenberg einen umfassenden Querschnitt des künstlerischen Schaffens des Zeichners und Kinderbuchautoren Tomi Ungerer: TOMI UNGERER – IT’S ALL ABOUT FREEDOM. |
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nur bis Montag, 29. November 2021 |
Machen wir doch den schrecklichen Black Friday einfach zum buntesten Freitag aller Zeiten! Der GRANSHAN Type Design Wettbewerb bietet für nur vier Tage ein Special: zwei Einsendungen zum Preis von einer ... |
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Stolz geschwellte, nein viel besser: stolz geballte Brust mit Bierdose und Badeschlappen zwischen Weihnachtsbaum und Ordnungshüter – jeder feiert den ersten Advent auf seine Weise. Auf der Spurensuche zu den Hintergründen dieses Fundstücks der Woche sind wir nicht so recht fündig geworden – auch die Bildbeschriftung des Originals The Caped Cop and the Badonkah Bearer, protectors of the motherland hilft nicht wirklich weiter. Der zwischenzeitlich vermutete, versteckte Hinweis auf den schrecklichen, völlig aus der Zeit gefallenen und dringend zu cancelnden Song Honky Tonk Badonkadonk des uns bis eben auch noch unbekannten Trace Adkins erwies sich als kaum haltbar. Für sachdienliche Hinweise sind dankbar ... |
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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechterspezifische Schreibweise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittelpunkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lesefluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Textlücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografiequalität also eine bessere Alternative, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittelpunkt oder eine andere Form benutzen. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechtsneutral zu verstehen. |
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8daw ist der wöchentliche Newsletter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die langjährige Tradition der Netzwerkpflege mit außergewöhnlichen Aussendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperationspartner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikationsdesigner und die Typographische Gesellschaft München (tgm). |
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Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgartenallee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 () in Verbindung mit Kochan & Partner GmbH, Hirschgartenallee 25, 80639 München, news@kochan.de
Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bildredaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.
Bildnachweis: Kalender – It’s all about Freedom ©Tomi Ungerer Estate/Diogenes Verlag AG, Zürich Fundstück – Courtesy of Imgur
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