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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 25. Februar 2022

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

»Es gibt so viele Linien, aber nur eine von ihnen ist tödlich, und das ist die gerade Linie, die mit dem Lineal gezogen ist«, schrieb der Maler und Architekt Friedensreich Hundertwasser – und weiter: »Die gerade Linie ist dem Menschen, dem Leben, der gesamten Schöpfung wesensfremd.« Es war Hundertwassers Kriegserfahrung und das Bild in Reih und Glied aufmarschierender Soldaten, die seine Abneigung gegen die gerade Linie begründeten. Hundertwasser hat sich ein Leben lang an solchen Linien abgearbeitet, die einem Denken entspringen, das es nicht vermag, sich zu öffnen, und stattdessen in verengten Rastern verharrt.

Viel war in den letzten Wochen zu hören von Linien. Jener Demarkationslinie zum Beispiel, die 2014 im Minsker Abkommen  zwischen Russland und der Ukraine vereinbart wurde, von Linientreue und von roten Linien, die nicht überschritten werden dürften. Kriegsrhetorik, der es etwas entgegenzusetzen gilt. Die Buchempfehlung eines 8daw-Lesers, Claudius Lazzeroni, wurde für uns dabei zur Inspirationsquelle: Eine kurze Geschichte der Linien  des britischen Sozialanthropologen Tim Ingold handelt von Linien anderer Art. Linien, die von Beziehungen sprechen, von Zivilisation und Zivilisiertheit. Linien, die atmen, zarten Organismen ähnlich, die Ingold Fäden und Spuren nennt. Dabei kommt er auch auf das Lineal zu sprechen, das im englischen Ruler heißt, was zugleich Herrscher bedeutet. Die mit dem Lineal gezogene Linie als Signum der Macht? Ingold zitiert in seinem Buch auch Paul Klee, der diese Frage mit einer ganz anderen Vorstellung von einer idealen Linie beantwortet. Eine, die an Herrschaftslosigkeit denken lässt und darin auch an Hoffnung: »Die Linie, die sich frei und in der eigenen Zeit entwickelt«, schreibt Klee, »macht einen Spaziergang um (ihrer) selbst willen, ohne Ziel.« Eine solche Linie spricht von Freiheit, von Offenheit und durch das Fehlen von Ziel und Vorsatz auch von der Abkehr vom kriegerischen Handeln.

Ich wünsche Ihnen mit Paul Klee ein gutes Wochenende, ohne die Hoffnung fahren zu lassen.

Herzlich
Ulrich Müller

 

Ab der nächsten Ausgabe geht bei 8daw alles wieder seinen gewohnten Gang und es wird Sie unser Chefredakteur, Boris Kochan, mit seinem Editorial begrüßen.


 
 

Er war ein Pionier der Chronofotografie: Der Physiologe und Erfinder Étienne-Jules Marey  (5. März 1830 - 15. März 1904) war fasziniert von der Idee, Bewegungsabläufe in einem einzigen Bild festzuhalten. Was hier auf den ersten Blick wie ein Bündel überdimensionierter Spaghetti wirken könnte, ist tatsächlich nur ein flexibler Stab, den Marey schüttelt, um dieses organische Linienmuster zu erzeugen.


Eine kleine Liniensammlung
 

Buslinie | Bahnlinie | Haarlinie | Höhenlinie | Linienverkehr | Linienschreiber | Linienführung | Grundlinie | Linienflug | Linienblatt |
Linienrichter | Spektrallinie | auf Linie sein | linientreu | Abstammungslinie | Linientruppe | linienförmig | Linienball | Kreislinie | Demarkationslinie | Linieninstanz | Richtlinie | Bruchlinie | Schlangenlinie | Liniendiagramm | Grenzlinie | Lebenslinie | Stromlinie | Schusslinie  | Maßlinie | Trennungslinie | Nulllinie | Verteidigungslinie | Zickzacklinie | Freihandlinie | Strichlinie | Parteilinie | Begrenzungslinie | Notenlinie | Binnenlinie |
Wasserlinie | Schnittlinie | Profillinie | Blutlinie | Umrisslinie | Wellenlinie | Leitlinie | Liniensystem  | Fluglinie [sib]

Eine weitere Linie, die den meisten Menschen allerdings unbekannt sein dürfte  - es sei denn sie haben einen ausgeprägten Hang zum klassischen Druckgewerbe -, ist die sogenannte Messinglinie. Hermann Berthold, der 1858 die einst größte Schriftgießerei der Welt gegründet hatte, erfand die Messinglinie, mit der sich beispielsweise Einrahmungen mit nie gekannter Präzision drucken ließen. In ihrem lesenswerten Artikel erzählt die Kommunikationsdesignerin Kirsten Solveig Schneider die bewegte Geschichte der berliner H. Berthold AG.


 
 

Marey verwendete für seine Chronofotografien stets nur eine Kamera, deren Platten mehrfach belichtet wurden. Für ihn die ideale Möglichkeit, auch komplexe Bewegungsabläufe in einem Bild zu vereinen. Sein Stabhochspringer aus dem Jahr 1890 erinnert ein wenig an die Idee, die hinter Marcel Duchamps berühmtem Akt, eine Treppe herabsteigend steckt. Allerdings entstand Duchamps Gemälde erst ganze 22 Jahre nach dieser Fotografie.


Abwesend des nachts
 

Der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten? Die Gerade. Liegt sie? Wartet sie? Ruht sie? Die horizontale Linie korrespondiert zwischen links und rechts, vermag sich zu dehnen, horizontweit nach Osten und Westen. Und darüber hinaus. Sie verbindet das beginnende Frühjahr mit dem endenden Herbst. Lebenslinie. Alles, was wachsen will, wird genährt.

Die vertikale Linie gilt als aktiv, sie ruht nicht, steht, dehnt sich zum Himmel und hinunter zur Erde, drängt in Höhen und Tiefen, nach Süden und Norden, verbindet im Kreistanz der Jahreszeiten Sommer und Winter. Adrian Frutiger spricht in seinem Buch Der Mensch und seine Zeichen von den »Zeichen der abendländischen Dualitätsvorstellung«. Die liegende und die stehende Linie scheinen unvereinbar zu sein. Und doch treffen sie sich, durchdringen sich, beide aus dem Offenen kommend und ins Offene weisend. Das Kreuz steht frei. Wir sehen das Strukturprinzip in vielen Pflanzen, Blüten, den Gitterstrukturen von Kristallen.

Aus dem Kreuz lässt sich das Karo entwickeln, Glencheck, Vichy, das weltberühmte Schottenkaro. Jeder Clan trug einst sein eigenes Muster. Dann packt Vivienne Westwood Londons ungebügelte Punks ins traditionelle Karo, infiziert die Grunge-Szene bis hin zu Kurt Cobain. Klarer strukturiert: das einfache Karopapier – exaktes Raster fürs Messen, Wiegen und Zählen. Die Regeln sind festgelegt, die Wege wiederholbar, die Ergebnisse belegbar richtig oder falsch. Das Karopapier als Handlanger fürs lineare, folgerichtige Denken. Adrian Frutiger sagt: »Im Übrigen sollten wir nicht vergessen, dass allein die Tatsache unserer bewussten Tätigkeit am Tage im Gegensatz zur unterbewussten (und unbewussten) Abwesenheit während der Nacht die lebenswichtigste Dualitätskondition darstellt, von der wir uns nicht lossagen können.« Herrlich abwesend des nachts. [gw]

 

Subkultur aus Seattle: Grunge – zu Deutsch Schmuddel, Dreck, überträgt von den 1960er bis in die 1990er Jahre die »Hässlichkeit und Verderbtheit« der Welt in Musik, Mode, Lebensstil. In der Musikrichtung Grunge treffen sich Hardrock, Punk, Heavy Metal, Rock’n’Roll. Im Einsatz: Schlagzeug, Gitarre, Bass und Sänger oder Sängerin, die klassische Rock’n’Roll-Besetzung. Der Sound: gitarrenorientiert, verzerrt und basslastig. Die Welt reagiert zunächst mit mäßigem Interesse. Der Nirwana-Song Smells Like Teen Spirit löst dann 1991 einen regelrechten Grunge-Hype aus. Verwaschene T-Shirts, karierte Hosen und Flanellhemden wechseln zum Mainstream. Der Selbstmord Kurt Cobains von Nirwana 1994 markiert den Anfang vom Niedergang des Grunge.


 
 

Das Unsichtbare sichtbar machen: Marey ging es keineswegs nur um fotografische Ästhetik. Sein naturwissenschaftliches Interesse brachte ihn auch auf die Idee,  Luftbewegung beim Zusammenstoß mit Gegenständen unterschiedlicher Form zu fotografieren. So entstanden um 1900 seine Fotos sogenannter Streichlinien, die für Strömungsfelder charakteristisch sind. Gespensterhafte Stillleben von eigenartiger Schönheit.


Die Lebenslinie der Kunst
 

Wenn ich als 8daw-Redaktionsmitglied behaupten würde, Linien seien keine Kunst, wäre das wohl Anzeichen eines Borderline-Syndroms: Schließlich liefe ich Gefahr, bei meinem Text auf Wemberlines – wie die Illustrationen unserer hochgeschätzten Kollegin Martina Wember heißen – verzichten zu müssen. Aber gilt nicht das Strichmännchen als Inbegriff des Zeichendilletantismus? Sind Umrisslinien nicht schnöde Hilfsmittel beim Malen, die es bei der Vollendung des Werks tunlichst durch Farbe zu verhüllen gilt? Und heißt es nicht etwa über das Berufsbild des Guillocheurs, eines Handwerkers, der Schraffuren in Form von Linien mittels Stichel auf Metall aufbringt, »daß eine durchschnittliche allgemeine Intelligenz genügt. Einen über den Durchschnitt begabten Jungen hält man für zu gut für das Guillochieren, da es eine mehr oder minder geistlose Arbeit ist, die nicht jeden befriedigen kann«?

Dabei ist Kunst ohne Linien kaum vorstellbar. Als rotierender Punkt sind sie das älteste Element der Kunst. Implizite Linien verbinden die Skulpturen in der antiken Bildhauerei, etwa die Schlange in der Laokoongruppe. Indem Linien den Blick des Betrachters leiten und seine Perspektive bestimmen, überlassen sie dem Künstler die Kontrolle über die Rezeption seines Werkes – sei es nun Fotografie oder Gemälde. Zudem erlaubt eine einzige Linie durch Druck und Schwung mehr emotionalen Ausdruck als tausend Punkte es vermögen. »Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis«, sagt Kandinsky. Und Paul Klee lädt zu einer zeichnerischen Reise »ins Land der besseren Erkenntnis ein«: »Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie).« Schließendlich kürt Pablo Picasso ein grafisches Element zum Höhepunkt des malerischen Schaffens: Seine Stier-Serie besteht aus 12 Lithografien in unterschiedlichen Abstraktionsgraden, wobei der Gestaltungsprozess sich von der fein ausziselierten lebendigen Pinselzeichnung über kraftvoll modellierte Anatomieformulierung Schritt für Schritt vorarbeitet zu einer Reduktion auf: Linien.

Was also wäre ein Text ohne Martina Wembers poetische Linien? Eine Nulllinie. [sib]

 

 
 

Marey verstand es auch, seinen Beruf als Physiologe mit seiner Leidenschaft für grafische Übersetzungen von Bewegungen und seiner Ingenieursbegabung zu verbinden. So verbesserte er den von Karl von Vierordt 1854 entwickelten Sphygmographen – ein kompliziertes Pulsdruckmessgerät, das diese abstrakten Liniengewebe aus Pulsdruckkurven und deren zeitlicher Zuordnung  produzierte – Medizin trifft Kunst.


Das Fundstück der Woche

 
 

Tim Ingold erwähnt in seiner kurzen Geschichte der Linien auch die Inuit, in deren Anschauung eine Person, die sich bewegt, zur Linie wird. Es ist eine merkwürdige Verwandtschaft mit dieser Vorstellung, die sich bei der Betrachtung des Films der Gebrüder Lumière von dem ersten beweglichen Fahrsteig der Geschichte auftut. 1900 wurde dieses technische Wunderwerk anlässlich der Pariser Weltausstellung von dem Architekten Eugène Hénard entwickelt.


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Bilder von Étienne-Jules Marey
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Fundstück
Louis Lumière für die Weltausstellung 1900 in Paris


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