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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 11. März 2022

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

»it's so strange not to hear the sound of air raid sirens and see the shops open«, schrieb mir gestern Abend eine befreundete Kollegin aus der Ukraine, nachdem sie mit ihrer kranken Mutter und einer Freundin die Grenze zur Slowakei bei Uschgorod endlich passieren konnte. Mittlerweile sind sie bei Bratislava und werden dort übernachten, bevor sie morgen nach München kommen.

In der letzten Woche habe ich Sonja Zekri zitiert, die uns eine »entschiedene Hinwendung zur Kultur der Ukraine« nahelegt. Denn in »Putins imperialem Denken gibt es weder eine eigenständige ukrainische Kultur noch ein selbstständiges Land. Umso wichtiger ist für die Menschen in Charkiw, Odessa und Lwiw die Wertschätzung ihrer Literatur, ihrer Dramen, ihrer Musik.« Wir greifen diesen Vorschlag gerne auf und stellen Ihnen in dieser 8daw-Ausgabe vier ukrainische Künstler vor … damit wir besser verstehen, wem eigentlich unsere, wie Zekri schreibt, »beeindruckende Solidarität« gilt.

Mittlerweile gibt es zahlreiche Aktionen und Initiativen, die Hilfe für die in Not geratene Kulturszene und Kultureinrichtungen in der Ukraine organisieren und Hilfe für geflüchtete Menschen aus dem Kulturbereich anbieten – eine laufend aktualisierte Zusammenstellung bietet der Deutsche Kulturrat auf seiner Webseite an. Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer, hat in einem lesenswerten Interview seine Haltung erklärt: »Kultur ist das Verbindende und das Trennende, Kultur ist immer beides. Kultur ist die Chance, die Hand irgendwann wieder zu reichen, aber sie wird auch immer wieder als Argument dafür benutzt, um Trennungen zu begründen.« Erschrocken von den »Standing Ovations für die Erhöhung der Rüstungsausgaben« folgert er: »Wir dürfen jetzt nicht nur die Bundeswehr aufrüsten, wir müssen auch den Kulturbereich aufrüsten. Ich bin in der Friedensbewegung sozialisiert worden, ich war Kriegsdienstverweigerer. Für mich ist in den letzten Tagen eine Welt zusammengebrochen. Wir müssen mehr für unsere Verteidigung tun. Aber die wird nicht nur mit Waffen organisiert. Ich wünsche mir auch mehr Geld für den internationalen Kulturaustausch.«

Herzliche Grüße zum Wochenende!
Boris Kochan

 

»Du kannst die Angst in den Augen der Menschen sehen« – eine Angst, die die in Kiew lebende Illustratorin, Grafikdesignerin und Kuratorin, Anna Sarvira in ihren Illustrationen festhält, durch deren vermeintlich fröhliche Buntheit das Kriegsgrauen umso eindringlicher als das ultimativ Andere zu jeglicher unbeschwerter Lebensnormalität durchscheint – großen Dank, dass wir ihre Zeichnungen in dieser 8daw-Ausgabe zu ukrainischen Künstler·innen und Kreativen verwenden dürfen. Sarvira, die sich seit ihrer Kindheit nicht nur fürs Zeichnen, sondern auch für Mathematik und IT interessiert, fühlt sich der Tradition asiatischer und europäischer Illustrator·innen verwandt. Als grundlegenden Einfluss für Ihr Schaffen nennt sie jedoch die umfassende Kunstbibliothek ihres Vaters, die ihren bildnerischen Horizont schon als Jugendliche geöffnet hat. In ihren Illustrationen zeigt sie den Menschen als fragiles, empfindsames Wesen. Daher erscheint es auch umso naheliegender, dass Bilderbücher für die Schwächsten und Verletzlichsten, für Kinder also, ihr ein besonderes Anliegen sind. Und nicht zuletzt setzt sich diese Zuwendung auch in ihrer Arbeit für soziale Projekte fort. Ein umfassendes Engagement, in dem die Grenzen von Kunst und Leben aufgehoben sind.


 

Alla Zahaikevych – neue Musik aus Kiew
 

Filigrane musikalische Gestalten. Fragmentiert vorüberhuschend – kristallin. Dann wieder fast gewaltsam wirkende Ausbrüche, die sich zu wuchtigen Klangblöcken verdichten: Unerhörte, packende Musik, in der der Klang akustischer Instrumente, nicht selten auch solche der ukrainischen Volksmusik, mit elektronischen Klängen verschmilzt und daraus etwas Neues, Drittes und ganz und gar Authentisches entsteht. So könnte eine Kurzbeschreibung der Musik der 1966 im ukrainischen Khmelnytskyi geborenen Komponistin und Medienkünstlerin Alla Zahaikevych lauten. Wenig ist im Westen über sie bekannt und selbst im allwissenden Internet lassen sich nur ein (englisch/französischer) Wikipedia-Eintrag, ein paar verstreute Anmerkungen und ein kurzer, musikwissenschaftlicher Artikel über ihr Schaffen finden. Ein veritabler blinder Fleck, der umso schwerer wiegt, da Zahaikevych die wohl profilierteste zeitgenössische Komponistin der Ukraine ist. Ihr Schaffen deckt alle Gattungen von der Kammermusik über die Oper bis hin zu Klanginstallationen ab und dabei ist ihr musikalischer Kosmos wie bei wenigen Gegenwartskomponist·innen wesentlich auch von der elektronischen Musik geprägt.

Studiert hat Zahaikevych an der nationalen Musikakademie der Ukraine in Kiew, wo sie sich mit ukrainischer Volksmusik sowie klassischen und zeitgenössischen Kompositionstechniken auseinandergesetzt hat. Danach hat sie am Pariser IRCAM – eine der einflussreichsten Institutionen für elektronische Musik weltweit – ihren musikalischen Ausgriff bis in die Welt der neuen Medien geweitet. Dabei hat sie durch ihre Hinwendungen zu den sogenannten französischen Spektralisten auf ihre sehr persönliche Art und in keinster Weise restaurativ auch die lange Tradition des Austausches zwischen der französischen Musik und der Musik des ehemaligen russischen Reichs neu befruchtet. Der Einfluss Zahaikevychs auf die ukrainische Gegenwartsmusik ist immens: Sie hat heute selbst eine Professur an der Kiewer Akademie inne und dort auch das erste elektronische Studio einer ukrainischen Hochschule überhaupt eingerichtet. Sie ist als Kuratorin für Festivals neuer Musik tätig, geschätzte Jurorin wichtiger Wettbewerbe und nicht wenige ihrer Schüler·innen sind inzwischen zu einer neuen und aufregenden Generation ukrainischer Musiker·innen gereift, die nun einer ungewissen Zukunft entgegensieht. [um]

 

Alla Zahaikevych gilt als politische Aktivistin, die sich für eine unabhängige Ukraine einsetzt. Ihre politische Sensibilität fließt natürlich auch in ihre Musik ein, die jedoch keineswegs als vordergründig politisch betrachtet werden kann. Es sind literarische Quellen, historische Ereignisse, aber auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die den Anlass für ihre Werke abgeben, welche Kraft der künstlerischen Imagination von Zahaikevych weit über diesen jeweiligen Auslöser hinausweisen. So auch in dem Stück Heroneya aus dem Jahr 2013 für Kammerensemble und elektronische Klänge. Heroneya ist der türkische Name der griechischen Gemeinde Chaironeia. Dort besiegte 348 vor Christi Philipp II. von Makedonien die athenisch-thebanische Koalition und errichtete in der Folge das Makedonische Großreich, das unter seinem Sohn Alexander dem Großen zum Weltreich wurde. Die Anspielung auf den russisch-ukrainischen Konflikt ist unübersehbar und unüberhörbar – und dennoch ist Heroneya auch ein starkes Stück autonomer Musik, das für sich alleine steht. Hier nachzuhören.


 

Mykola Ridnyi – kulturelle Korridore
 

Miteinander sprechen – über alle Fernen hinweg, sichtbar werden. Sprech­end, schreibend, gestaltend, tanzend, komponierend, darstellend in Erscheinung treten. Verbindung herstellen, die Korridore offenhalten. Der 1985 in Charkiw, Ostukraine, geborene Künstler, Filmemacher, Kurator und Autor Mykola Ridnyi ruft in seinen Werken die soziale und politische Realität seiner Heimat auf. Er zeigt den Kontrast zwischen Verwundbarkeit und Widerstandskraft, holt die Unsicherheiten und Brüche ans Licht, die die jahrelange Nähe zum Krieg in den Alltag gerade junger Ukrainer graviert hat. 

Ein abgedunkelter Raum in der Ausstellung Die Schule von Kyiv, Tonformen auf einem Tisch. Sind das Tempel? Grabstätten? Es sind Modelle von ukrainischen Bunkern. Dazu das Video von Mykola Ridnyi: Immer wieder setzt ein Mann rhythmisch-mechanisch eine Maschinenpistole zusammen. Ein Video des Berliner Duos Cathleen Schuster und Marcel Dickhage lässt eine Frau ähnliche Bewegungen ausführen: Sie montiert mechanisch Mobiltelefone am Band. Entmenschlichung. Leben. Krieg. Frieden.

Miteinander sprechen, Verbindungen herstellen: Mykola Ridnyi ist Gründungsmitglied des Künstlerkollektivs SOSka group und Mitbegründer der gleichnamigen Galerie mit Experimentallabor in Charkiw. Seine Arbeiten finden Aufmerksamkeit in nationalen wie internationalen Ausstellungen, etwa 2015 auf der 56. Biennale in Venedig, in Bonniers Konsthall in Stockholm oder bei der Transmedialen in Berlin. Kulturelle Korridore sind auch humanitäre Korridore. [gw]

 

Bei gutem Wetter steigt der Imagine Peace Tower gut 4000 Meter hoch in den nächtlichen Himmel über dem Fjord von Reykjavik. Yoko Onos leuchtendes Friedenssymbol und Denkmal für den ermordeten John Lennon erstrahlt jährlich vom 9. Oktober, dem Geburtstag Lennons, bis zu seinem Todestag am 8. Dezember (und zwischen der Wintersonnenwende und Neujahr sowie der ersten Frühlingswoche). Außerhalb dieser Reihe, mit Beginn des Ukrainekriegs, hat nun die Stadt Reykjavik den Imagine Peace Tower in Betrieb gesetzt.


 

Juri Andruchowytsch – Poesiestrategie
 

Landkarten üben eine große Faszination auf Jurij Andruchowytsch aus, der Schriftsteller, Essayist und Übersetzer, der gerne die intellektuelle Stimme der Ukraine genannt wird: »Am faszinierendsten war es, wenn ich mir vorstellte, ich sei ein kleiner beweglicher Punkt auf ihrer farbigen Oberfläche, über sie hingleitend, Bergkämme überwindend, mit der Strömung die blauen Fäden der Flüsse abwärts schwimmend.« Nur eines hat seine Landkarte nicht: Grenzen, zumindest nicht zwischen West- und Osteuropa, denn er ist entschiedener Verfechter einer Ukraine auf dem Weg gen Westen.

Juri Andruchowytsch wurde 1960 in Iwano-Frankiwsk geboren. Er studierte Journalistik in Lwiw, einst Lemberg, und Literatur in Moskau. Zunächst gehörte er dem literarischen Untergrund der Ukraine an, bis er in den 1980er Jahre, als die Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens durch die Perestroika auch in seiner Heimat Wirkung zeigte, endlich eine öffentliche Bühne für seine Texte fand. Damals gründete er auch die literarische Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu, deren Name für Burleske, Balahan/Jahrmarktsbude und Buffonade stand und die mit dadaistischer Lyrik provozierte. Auch wenn sich sein Stil seither gewandelt hat, so war Andruchowytsch nie bequem und ist es auch heute noch nicht. Gerade das dürfte ihm die unzähligen nationalen und internationalen Literatur-Preise eingebracht haben, von denen viele mit Frieden oder zumindest Verständigung zu tun haben.

Kulturaustausch sei keine Straße, auf der Waren über die eine Spur hierhin exportiert und auf der Gegenfahrbahn von dort angeliefert würden, sagte Andruchowytsch-Übersetzerin Sabine Ströhr über sein Werk: »Kultureller Austausch besteht aus unendlich vielen Elementarteilchen, die in alle möglichen Richtungen strömen, die herumschwirren, sich treffen, wieder voneinander lösen, die sich zu immer neuen Konstellationen zusammenfinden und sich gegenseitig bereichern. Genau das ist das Wesen der Literatur von Juri Andruchowytsch.« [sib]

 

 

Kalender
Veranstaltungen, Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion
 
 

Der Deutsche Designer Club (DDC) hat in Kooperation mit Design made in Germany (DMIG) eine Plattform eingerichtet, auf der Kreative, Agenturen, Unternehmen, Designorganisationen und Bürogemeinschaften aller Fachrichtungen geflüchtete ukrainische Kreative aktiv mit einem Jobangebot oder mit einem Co-Workingspace unterstützen können.


Das Fundstück der Woche

 
 

Warum eigentlich sollten in einer Welt der Falschnachrichten nicht auch Schriften einfach Fake sein? Ähnlich der Camouflage verschleiern diese Zeichen Inhalte, die die herrschenden Ausdrucks- und auch Sprachmittel imitieren, und transportieren so subversive Inhalte. Oder?


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
© Anna Sarvira
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