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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 17. April 2022

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

mutwillige Beobachtungen nennt der Münchner Fotograf Dominik Parzinger seine beeindruckende Serie von so beiläufigen wie hintergründigen fotografischen Alltagserzählungen auf Instagram. Statt Beschädigung, Verwüstung und Zerstörung, die in Verbindung mit dem Adjektiv mutwillig leider nur allzu aktuell wären, überführt er das Mutwillige mit ergänzenden Hashtags wie #menschen_und_ihr_zeugs, #schräges_leben oder #der_wille_zählt ins zugeneigt Dokumentierte wie zugleich ambivalent Absichtsvolle.

Jubiläen jeglicher Provenienz unterliegen einer ähnlichen Grammatik: Mit sehr viel Absicht aus dem Alltag hervorgehoben können sie nicht nur der Überhöhung, Persiflierung und Machtdemonstration, sondern auch der (Selbst)Vergewisserung, des Wiederentdeckens wie der Hinterfragung dienen. Gerade, wenn das Ungewisse das Gefühlsleben dominiert … ist Rundes aller Art erstrebenswert.

Dass nun ausgerechnet die (primzahlverdächtige) #73 zur hundertsten Ausgabe von 8daw gerät, hat etwas mit zwei intensiven Vorlaufzeiten zu tun: einer nicht öffentlichen Alpha- und einer teilöffentlichen Betaphase, die mittlerweile beide auch in der 8daw-Chronik vollständig nachzulesen sind. So stolz wir einerseits sind, nun seit 100 Wochen unsere Streifzüge durch den Wandel immer auch am Rande der (zeitlichen) Überforderung zu begehen – so sehr ist es uns ein echtes Anliegen, dem Alltag ein Schnippchen zu schlagen: unserem eigenen wie dem unserer geneigten Leser·innen. Die 100 ist zwar schon rein (typo)grafisch eine unendlich langweilige Zahl, aber auch ein großes Faszinosum: ein vorangestellter Krückstock geriert Unendlichkeit. So ist Hundert im Sinne von ganz schön viel auch sehr verführerisch – und ermöglicht nicht nur scheinaktuell Begehrenswertes (100 mal geiler Sex – Sex Sammel­band mit Beiträgen von Pamela Hot, Lariana Bouche, Carmen Clit und Lissy Feucht). Sondern auch 100 Jahre Einsamkeit, in denen Gabriel Garcia Marquez das Kunststück vollbringt, Apokalypse und Eldorado so zu vermengen, dass das Erzählen selbst Teil einer neuen, erstrebenswerten Wirklichkeit zwischen heute und morgen wird. Vielleicht können Gegenerzählungen wie diese dazu beitragen, dem Hass in der Welt etwas Liebenswertes anzubieten?

Herzliche Grüße zu Ostern!
Boris Kochan

 

Wie zuvor schon erwähnt, durften wir für diese Ausgabe Fotos aus der (Instagram-)Reihe Mutwillige Beobachtungen von unserem Freund und 8daw-Leser Dominik Parzinger verwenden: vielen Dank dafür!


 

Von null auf hundert
 

Der kommt aber verdamt schnell von Null auf Hundert – des einen Freud, des anderen Leid. Was beim Sportwagen gern als röhrendes Erkennungszeichen durchgeht, belastet manch eine vom äußerst aufbrausenden Temperament des Partners geprägte Beziehung. Häufig ins kalte Wasser geworfen, müssen auch neue Mitarbeiter·innen (oder neu in Ämter gewählte Politiker·innen) ihre Leistung um diesen sprichwörtlichen Faktor steigern.

Schon unter fünf Sekunden schaffen hingegen mehr als 100 Boliden die Beschleunigung auf 100 Stundenkilometer – was physikalisch betrachtet nicht anderes ist als die momentane zeitliche Änderungsrate der Geschwindigkeit pro Zeitintervall. Mit an der Spitze der Bugatti Veyron, der mit 1.000 PS in 2,5 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h sprintet. Weit abgehängt allerdings von Fahrzeugen, die speziell für Drag Racing, so genannte Beschleunigungsrennen, konzipiert sind. Vor drei Jahren schaffte Brittany Force mit ihrem 10.000 PS starken Gefährt in 3,659 Sekunden von null auf 540 km/h und hängte damit sämtliche männlichen Kollegen ab!

Dragster sind übrigens echte Ökomobile, da sie statt fossilen Brennstoffen Methanol verbrennen. Wäre das also eine echte Alternative zu Tempo 100 auf der Autobahn, das aktuell nicht mehr nur ein Klimaschutzthema ist, sondern auch hinsichtlich eines russischen Ölembargos attraktiv erscheint? Die Wirksamkeit ist freilich umstritten. Während den einen die berühmt-berüchtigte German Autobahn als Inbegriff verruchter und verrußter Geschwindigkeitsfreiheit gilt, konstatieren die anderen, dass ohnehin schon 96 Prozent aller deutschen Straßen mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung belegt seien. Nichts desto trotz geht das Umweltbundesamt davon aus, dass sich bei Tempo 100 auf Autobahnen und Tempo 80 außerorts 3,8 Prozent des Kraftstoffverbrauchs im Verkehrssektor einsparen ließe. Ob das Putins Kriegskasse austrocknen würde, sei dahingestellt – die Wirtschaftsweise Veronika Grimm spricht eher davon, ein »Signal zu setzen«. Tatsache dürfte aber sein, dass manchem von uns ein wenig Entschleunigung guttun würde. Der Soziologe Hartmut Rosa geht jedenfalls davon aus, dass die ständige soziale Beschleunigung, die er in den Bereichen Technik, sozialer Wandel und individuellem Lebenstempo ausmacht, zur Entfremdung führe – nicht nur von der Umwelt, sondern auch von sich selbst. [sib]


 

100? Nein danke!
 

Was verbindet die 7 und die 13 miteinander – abgesehen von der betrüblichen Aura von Todsünden und Unglücksfällen aller Art? Antwort: Beide sind Primzahlen und die Differenz beträgt 6, weshalb sie unter Mathematiker·innen sexy Primzahlen genannt werden. Nun ließe sich einwenden, die Differenz von 100 und 94 ist ja schließlich auch 6. Aber mal ehrlich, wer denkt bei der 100 ernsthaft an Erotik? Ich zumindest denke dabei eher mit Sorge an die dritten Zähne und Sahnetorte im Seniorenheim, Sodbrennen und Alka Seltzer – und zwar genau in dieser Reihenfolge. Ich mag die 100 einfach nicht. Auch optisch ist sie mir unangenehm, diese unerquickliche Kombination aus Verklemmtheit und Aufgeblasenheit: Die stocksteif-streberhafte 1 mit ihren beiden fettleibigen Nullen im Gefolge, die auch nur mit heißer Luft gefüllt sind (00). Versteht sich von selbst, dass die Quersumme natürlich nur die 1 sein kann. Selbstherrlich und überaus langweilig: 1 = 1.

Ungleich schmissiger kommt da zum Beispiel die 97 rüber – elegant und ein bisschen kantig zugleich. Und sexy auch, wenn sie im Gespann mit der 103 auftritt (Differenz 6), denn auch hier handelt es sich um zwei Exemplare der Spezies der Primzahlen, die so herrlich widerständig und mysteriös ist. Nur durch sich selbst und die 1 teilbar kommen Primzahlen dem griechischen Atomon, jenem unteilbaren Grundelement des Universums nahe. Tatsächlich sind sie auch so etwas wie die Grundbausteine des Zahlenkosmos. Und um dem ganzen die Krone aufzusetzen, wollen Forscher·innen der Princeton University herausgefunden haben, dass ihre Verteilung darin quasi-kristallinen Strukturen entspricht. Da leuchtet das Auge! Und wie wenig inspirierend ist – höflich formuliert – dagegen doch die 100. Umso unverständlicher, ja geradezu rätselhaft erscheint mir das ganze Bohei, das darum gemacht wird. Mein Herz schlägt für die Primzahl, die 100 ist definitiv out. [um]

 

Weil schon von der Primzahl 7 die Rede war, soll auch deren höchst eigenwillige Bedeutung für die Musik, genauer die Harmonielehre nicht unerwähnt bleiben. Der 7. Ton der chromatischen Tonleiter ergibt ein Intervall zum Grundton, das wegen seiner dissonanten Wirkung lange verboten war: Der Tritonus, dem der bezeichnende Beiname Diabolus in Musica verliehen wurde. Erst langsam kam man darauf, dass das Teufelsintervall sich hervorragend dafür eignet, Spannung in einem Musikstück aufzubauen, und so entwickelte es sich zur idealen Arznei gegen jene musikalische Langeweile, die permanenter (oder penetranter?) Wohlklang irgendwann zwangsläufig verbreitet. Der Tritonus gehört zur Klasse der sogenannten Querstände, von der Andrea Braun in BR Klassik in einem kurzen und durchaus unterhaltsamen Lexikon-Beitrag erzählt: die verbotene Frucht der Harmonielehre.


 

Hundert plus
 

Ein Strich auf der Skala, ein kurzer Moment im Zeitenlauf und plötzlich steht sie da, die Hundert – rund, glänzend und lorbeerumkränzt. Hundert meint meistens ziemlich viel. Vermutlich mag auch deswegen kaum jemand richtig gerne nachzählen. So wuseln etwa die bissfreudigen Hundertfüßer mit 15 bis 191 Beinpaaren über den Planeten. Hundert Tage, versprechen die Freunde Paul und Toni in der Filmkomödie 100 Dinge, auf Luxus und Kommerz zu verzichten. Die Welt-Redakteurin Barbara Möller nennt den Film (dem die staatliche Filmförderungsanstalt Deutsche Film- und Medienbewertung, kurz FBW, das Prädikat wertvoll verliehen hat) – übrigens eine »Kapitalismuskritik für Vierzehnjährige jeglichen Alters«. Vielleicht ein Osterspaß? Bei dem man gewiss nicht die Dinge oder Tage zählt. Und Jahre? Da wird sowieso gerne gemogelt, hört man. Ob es wirklich Abrahams hundertstes Lebensjahr war, in dem ihm sein Sohn Isaak geboren wurde, bleibt ungewiss. Sicher ist hingegen, dass in einigen Regionen dieser Welt, den sogenannten Blauen Zonen, Über-Hundert-Jährige auf dem Vormarsch sind. Auch in Deutschland steigt die Zahl der Über-Hundert-Jährigen – Corona hin oder her. Dass Langlebigkeit nicht immer nur reines Vergnügen ist, zeigt der hintergründige Film Mama wird 100 Jahre alt des Regisseurs Carlos Saura. Hundert hat eben auch ein Davor und Danach. Besonders dramatisch inszeniert beim Wasser, das bei hundert Grad Celsius zu sieden und dampfen und sprudeln beginnt. Sprudeln darf’s jetzt auch im Kopf und Glas – weil endlich Frühling ist und die einhunderteinste 8daw-Ausgabe vor uns liegt. Frohe Ostern! [gw]


 

Kalender
Veranstaltungen, Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion
 

bis 24. April 2022, Cottbus

Robin Hinsch und
Andréas Lang
Im Fokus: Nigeria


Strukturen im Wandel: Nur noch bis 24. April läuft im Cottbusser CB Dieselkraftwerk eine Doppelausstellung »Im Fokus«, in der der fotografische Blick auf gesellschaftspolitische Veränderungen und (De)Industrialisierungsprozesse außerhalb Europas gerichtet wird. Die Ausstellung verknüpft zwei in Nigeria entstandene Fotoserien miteinander: Robin Hinschs Wahala und Andréas Langs »Lagos – Eine Geschichte des Verschwindens«. Der Bilderzyklus von Robin Hinsch zeigt das Leben und Arbeiten an Orten Nigerias, an denen fossile Brennstoffe für den Weltmarkt gefördert werden. Andréas Lang hingegen richtet seine Kamera auf ein Stadtviertel der nigerianischen Metropole Lagos, in dem die Spuren der kolonialistischen Machtverhältnisse des 19. Jahrhunderts aktuell von den Auswirkungen globaler Immobilienspekulationen überlagert und überschrieben werden.

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20. und 21. Mai 2022, München

GRANSHAN: Signs of the times, a Two-Day-Hybrid- Conference


Give voice to type: Schrift ist jetzt. Schrift ist überall. Schrift differenziert und führt zusammen. Buchstaben – gerade die nicht-lateinischen – helfen Menschen, sich ihrer Heimat zu vergewissern. Sie schafft eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen hier und dort. Die zweitägige GRANSHAN Conference Signs of the times geht den großen und kleinen Fragestellungen nach, die die Typographie Community beschäftigen genauso wie Schriftanwender·innen – jeden Tag, überall auf der Welt. Am Freitag mit Schwerpunkt auf technischen Fragestellungen. Am Samstag wird das Münchner Literaturhaus zu einem Ort de Begegnung und Diskussion, an dem Schrift und Typografie als wesentliche Grundlage für den internationalen Austausch und als Identifikationsfaktor untersucht werden. Mit Verleihung der Top-Preise des 12. GRANSHAN Type Design Wettbewerbs 2021/2022.


Das Fundstück der Woche

 
 

Es ist und bleibt ein allzu beliebtes kommunikatives Missverständnis von Marketingabteilungen, dass Jubiläen den (potenziellen) Kunden ganz besonders interessieren oder gar einen Kaufanreiz herstellen. Ob die 100 (von was auch immer) auf Titelseiten von Magazinen tatsächlich besser funktioniert? Entscheiden Sie selbst …


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
©Dominik Parzinger


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