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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 15. Mai 2022

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Fortschritt in allen Ähren lautet der treffliche Titel eines großen Bildbandes über DDR-Landmaschinen im Einsatz. Noch heute wird der selbstbewusste Markenname des ehemaligen volkseigenen Betriebs Kombinat Fortschritt Landmaschinen genutzt … von einer chinesischen Fortschritt Agritech Ltd. Immerhin würdigt diese die reichhaltige Produkt- und Werbegeschichte ihrer Vorgängerbetriebe mit einem beeindruckenden Zeitdokument auf ihrer Webseite. Am besten beim Durchklicken durch sechs Jahrzehnte den alten Fehlfarben-Song hören: Geschichte wird gemacht – es geht voran!

Solch zuversichtlicher Aufbruch wirkt aktuell ziemlich aus der Zeit gefallen – und auch der gelegentlich gehörte Verweis, im Longrun würde doch wirklich alles besser, erscheint mehr als zynisch. Dass die Design-Ikone Stefan Sagmeister ausgerechnet jetzt eine seiner provokativ naiven Beschäftigungen mit Fundamentalthemen (Glück, Schönheit) zu Geld machen will, irritiert: Angesichts der Pandemie hatte er sich den Fortschritt vorgenommen und die Verbesserung der Welt in höchst einfache grafische Formen übersetzt: »Noch nie ging es unserer Welt besser als heute. Es gibt weniger Krieg, Hunger und Analphabetismus, weniger Menschen sterben bei Naturkatastrophen, mehr Menschen leben in Demokratien, die Lebenserwartung ist gestiegen.« Seine sogar musealisierten, in der New Yorker Thomas-Erben-Gallery teuer verkauften und auf Illy-Tassen geprägten Beautiful Numbers gibt es nun also auch als T-Shirts, Hoodies und Hemden auf eigener Webseite namens Sagmeister123: sorry, das hat wenig mit Glück oder Schönheit zu tun, das ist – zumindest genau jetzt! – geschmacklos! Manchmal kommt es schon sehr darauf an, was man wann macht, oder?

Irgendwie ist dieser verdammte Fortschritt wirklich viel zu langsam, Fortgalopp wäre mehr als angesagt …

Ich wünsche trotzdem einen schönen Sonntag!
Boris Kochan

 

Die Bilder dieser Ausgabe sind sehr spontan entstanden. Die Entdeckung des Fortschritts als Landmaschine hat uns animiert, die dabei gefundenen Traktor-Modelle in neue Zusammenhänge zu stellen: Fortschritt wird gemacht!

 

Diese 8daw-Ausgabe erscheint angesichts der Vorbereitungen auf die Münchner Designwoche MCBW und die von uns verantworteten Veranstaltungen, wie die heutige Ausstellungseröffnung Ulsan in Munich: Typography Poster Exhibition, erst am Sonntag. Und auch die kommende Ausgabe wird davon geprägt sein: Wenn alles gut geht, werden wir von der GRANSHAN-Konferenz Signs of the Times (fast) live berichten – bitte Daumen drücken!


 

Das Herz stärken
 

Nicht lange her, da kannte Fortschritt nur eine Richtung: vorwärts. Wirtschaftswachstum heißt das Ziel. Steigerung das Zauberwort. Leistungs-, Produktivitäts-, Ertragssteigerung. Die Steigbügel: Innovation, Optimierung – nicht für jeden die richtige Lebenswelt. Dabei ist Ungleichheit fair, wie der Wirtschaftsökonom Engelbert Stockhammer schreibt: »Denn in einer marktorientierten Leistungsgesellschaft sind ungleiche Belohnungen der faire Ausgleich individueller Leistung.« Begleitet von unerschütterlichem Fortschrittsglauben treiben technische und wissenschaftliche Entwicklungen die Produktivität (und den Wohlstand für wenige) voran. Als fortschrittlich gilt, wer auf diesem Weg zielgerichtet, linear vorangeht, als reaktionär, wer ihn umkehren, also rückwärts gehen will. Fortschritt missrät leicht zum Vormarsch. Bis die gute westliche Welt von äußeren Ereignissen zutiefst erschüttert wird. Der Ukraine-Krieg, die Pandemie, die Umweltkatastrophen, die Erstarkung der Despoten.

Es lohnt sich, bei der gerade ob ihres fünfzigsten Jubiläums wieder vielfach zitierten Studie Grenzen des Wachstums des Club of Rome noch einmal nachzulesen: »Ganz neue Vorgehensweisen sind erforderlich, um die Menschheit auf Ziele auszurichten, die anstelle weiteren Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen. Sie erfordern ein außergewöhnliches Maß von Verständnis, Vorstellungskraft und politischem und moralischem Mut. Wir glauben aber, daß diese Anstrengungen geleistet werden können, und hoffen, daß diese Veröffentlichung dazu beiträgt, die hierfür notwendigen Kräfte zu mobilisieren.«

In unser Bewusstsein sickert die Erkenntnis, dass die Krone ein Teil der Schöpfung ist, dass wir anderen und anderem verbunden sind, auch, dass wir uns irren. Die Philosophen Charles Sanders Peirce und Karl Popper relativieren den Glauben an die Wissenschaft. Demnach häufen Wissenschaften nicht eine Wahrheit nach der anderen an, bis sie bei der absoluten Wahrheit angekommen sind, sondern räumen einen Irrtum nach dem anderen aus – ohne zu wissen, ob der Pool der Irrtümer je erschöpft sein wird. Womöglich könnte also im Rückschritt (inklusive Um- und Irrwege) eine Möglichkeit liegen. Rückwärtsgehen, so liest man, schärft Sinne und Denkfähigkeit, steigert das Energieniveau und stärkt das Herz. [gw]


 
 

Lasst uns fortschreiten!
 

Würdevoll und besonnen gehen, dafür steht das Wort schreiten. Zur Tat schreiten: bewusst und entschlossen handeln. Nach jedem Tritt, jedem Aufsetzen des Fußes auf die Erde folgt eine kleine Pause. Die Haltung: aufrecht. Das Ziel: weit weg. Die Richtung: zunächst unbestimmt, nur fort. Althochdeutsch: ford. Worin auch fordern steckt. Und gleichermaßen vorschritt wie abgang, vorwärt wie abwärts. Im Fortschritt steckt Bewegung und wer sich bewegt, wechselt die Perspektive, hat mal dieses, mal jedes im Blick, kann es in den Atempausen gegeneinander abwägen. Nun adelt man den Fortschritt noch mit einem Kollektivsingular, der jedem Substantiv eine strahlende Souveränität verleiht. Et voilà: ein politisches Schlagwort ist geboren.

Hebamme ist die Innovation – ohne sie, die bewusste und gezielte Veränderung hin zu etwas Neuem, gibt es keinen Fortschritt, wobei offen bleibt, ob zur Innovation bereits der sie generierende Prozess gehört oder erst das Endprodukt die Bezeichnung verdient. Während dem Begriff Fortschritt wissenschaftliche und kulturelle Seriosität anhaftet, ist die Innovation das Keyword der Werbesprache, schwingt doch in ihr stets Kreativität mit und ein der Branche immanenter Druck einer immer rasanteren Erneuerung. Im Hinblick darauf spricht der Astrophysiker Peter Kafka von der globalen Beschleunigungskrise, die dann eintrete, wenn die hohe Innovationsgeschwindigkeit es unmöglich mache, Erfindungen einer Bewährungsprobe zu unterziehen und der Problemerzeugung eine adäquate Problemlösung gegenüberzustellen. Kein Fortschritt ohne Innovation? Es sollte auch keine Innovation geben ohne fort zu schreiten … [sib]


 
 

Fortschrittstreppen
 

Zwischenschritte: In vielfachen Ockertönen verschachtelt, Linien halten zerschnittene Formen und unterstreichen gleichzeitig die Dynamik der Figur. Ist das überhaupt ein menschliches Wesen? Beeinflusst durch die Kubisten und Futuristen, vom jungen Medium Film, von fotografischen Bewegungsstudien, insbesondere Eadweard Muybridge’s Serienfotografie Woman Walking Downstairs, legt Marcel Duchamp 1912 das Bild Akt, eine Treppe herabsteigend vor. Die Entrüstung ist groß – gerade vonseiten der Kubisten, die eine Verspottung ihres Stils sehen. Die internationale Ausstellung moderner Kunst 1913 in New York gerät durch das Gemälde zu einem Skandal. In der New York Times schreibt Julian Street von einer »Explosion in einer Ziegelfabrik«. Selbst die Avantgarde fühlt sich durch diesen »Akt verzerrter Formen« brüskiert. Ob der ganzen Polemik gerät der Akt, eine Treppe herabsteigend binnen Kurzem zu einem der bekanntesten Gemälde der Neuzeit.

1966 hängt Gerhard Richter ein Polaroid-Foto seiner Frau Erna neben seine Staffelei, malt es ab, verwischt es: Erna schreitet nackt eine Treppe hinunter. Ein Akt? Völlig unpopulär zu dieser Zeit. Aber heute ist Erna – traumwandlerisch, unscharf, wie hinter einem Schleier verborgen – eine Ikone. [gw]


 
 

Das Fundstück der Woche

 
 

Ein tierisch-schönes Beispiel für den Unterschied von extrinsischer und intrinsischer Motivation …


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

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