ei8ht days
a week – Streifzüge durch den Wandel
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mit Boris Kochan und Freunden am 3.
Juni 2022
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Sehr
geehrte Damen und Herren,
.txt – es lebe
das (geschriebene) Wort! Deutschlands Festival für die digitale
Gesellschaft, die re:publica, erweitert in der kommenden Woche ihr
Programm um einen Tag, um
ihren Ursprüngen als Blogger·innen-Konferenz nachzugehen – und
will dabei ganz »im Hier und Jetzt und Morgen« agieren. Ein mutiges, aber
vielleicht gerade jetzt notwendiges Unterfangen. 100 Tage unerwartete
Nahkriegserfahrung mit stündlichem Update zum Frontverlauf und
Waffen(nicht)lieferungen haben sich tief eingegraben – sicher geglaubte
Überzeugungen erschüttert und nicht nur, aber eben auch, unsere Sprache
verändert.
Dabei schien
schon vorher die Gleichzeitigkeit dessen, was alles anzupacken, zu
reparieren und neu auszurichten ist, kaum bewältigbar. Die überaus
streitbare Wissenschaftlerin Maja Göpel wird
in ihrem Eröffnungsvortrag der re:publica der überaus aktuellen
Frage nachgehen, wie wir »Kompass, Kreativität und Courage« finden, »um
diese Herausforderungen weniger zu bekämpfen, als viel mehr zu gestalten«.
Und auch fragen: »Wer ist eigentlich wir und warum ist das so wichtig?«
Vielleicht lohnt
es sich gerade jetzt … gerade jetzt, einfach mal still zu sein? In sich zu
gehen, einzuhalten, diesem Moment ohne Worte nachzugehen? Um mit
Roland Barthes seinem Essay Die Lust am Text folgend über die
Entkörperlichung nachzudenken: Im Moment der Lektüre löst sich der Lesende
in ein anonymes Subjekt auf – der allen Einflüsterungen zugänglich ist.
Welche Macht doch dem (geschriebenen) Wort gegeben ist – im Moment des
(stillen) Lesens! …
Ich wünsche herzlich ein sehr lustbetontes Pfingstwochenende! Boris Kochan
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Die Bilder dieser
Ausgabe gehen im Wesentlichen einer Ausstellung von Fujiko Nakaya im Münchner
Haus der Kunst nach: Nebel Leben. Wenige natürliche Symbole
stehen so sehr für Stille – und zugleich für eine poetische Zukunftsperspektive
… wie der Nebel.
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I. »Im Verstummen
ebbt das Geräusch ab; im Nachklang klingt eine Ordnung aus. Bis alles in
die Stille mündet, die ganz anarchisch ist.« Wovon der Philosoph Hans Saner hier etwas
metaphysisch raunend spricht, ist wohl der Tod, die große, die
ultimative Stille. Dabei gebraucht er das Wort von der Anarchie im
ursprünglichen Sinn. Nicht von Chaos ist hier also die Rede, wie es der
Common Sense nahelegen könnte, sondern von der Utopie der
Herrschaftslosigkeit und von friedlicher Koexistenz.
Sofia Gubaidulina hören: Silenzio, I - III
(1991) Sofia
Gubaidulina wurde 1931 in Tschistopol in der autonomen Tatarischen
Republik geboren. Ihre Musik, die ein stetes Wechselspiel von Klang und Stille
ist, speist sich auch aus Gubaidulinas christlichem Glauben und war in der
Sowjetunion lange Zeit verboten, da sie nicht dem Sozialistischen Realismus
entsprach. Seit 1992 lebt sie in Deutschland.
II.
Herrschaftslosigkeit
gibt es im sogenannten Diesseits freilich nicht. Ebenso wenig wie
wirkliche Stille. Es war John Cages Verdienst, als Erster darauf hingewiesen zu
haben. Immer und überall ist Klang und Geräusch. Das Zwitschern der Vögel, ein
Auto fährt vorüber … Stille, so die Erkenntnis des Buddhisten Cage, ist eine
Frage der Haltung – genauer: der Abwesenheit von Absichten. »By Silence I mean
freedom of one's intentions«, sagte Cage. Seine Antwort: Dem absichtslosen
Zufall einen Platz in der Musik einräumen.
John Cage hören: Fourteen (1990) John
Cage zog bei seiner kompositorischen Arbeit mit Zufallsoperationen ebenso
das chinesische I Ging, das Buch der Wandlungen hinzu, wie er sogar mitunter
Unebenheiten des Notenpapiers zum Anlass nahm, musikalische Zeichen aufs Papier
zu bringen. Gleichwohl, war dies niemals ein Akt bloß provokativ oder gar witzig
gemeinter Beliebigkeit, sondern stets hochkonzentriert und kontrolliert, sich
mit jeder Note, jedem Tonzeichen seiner Verantwortung bewusst seiend.
III.
Worte zerschneiden die
Stille, denn in ihnen drückt sich zumeist Absicht aus. Vilém
Flusser, schrieb schon 1991 in seinem Versuch einer Phänomenologie,
den er Gesten nannte, über das moderne Sprechen als »Zerreden der
Stille«. Die Tore der Worte hätten sich sperrangelweit pathologisch geöffnet,
»und die Logorrhoe des Geredes überschwemmt die Gegend.« Wer die Geste des
Sprechens, den ursprünglichen Sprechakt also als solchen erfassen wolle, müsse
zuerst lernen zu schweigen. Doch »Schweigen«, so Flusser, »ist selbstredend
nicht Stille, sondern es ist jene Geste, welche das Wort aufhält, bevor es in
den Mund kommt.«
Luigi Nono hören: Fragmente
– Stille, An Diotima (1980) In seinem Streichquartett, dem
Hölderlins Gedicht Diotima zugrunde liegt, vollzog Luigi
Nono eine Wendung in seinem Schaffen. Der einst gelegentlich
aufrührerisch-expressive Ton seiner Kompositionen war jetzt größter
Zurückhaltung gewichen. Introspektion statt Expressivität. Die Interpreten sind
bei der Aufführung gehalten, eine Reihe von Fragmenten aus dem Gedicht
schweigend zu rezitieren, sie innerlich zu singen. Nono nannte das »schweigende
Gesänge aus anderen Räumen, anderen Himmeln.«
IV.
»… wandle gemessenen
Schrittes und dämpfe Deine Stimme; denn wahrlich, die widerwärtigste der Stimmen
ist der Eselsschrei«. So steht es im Koran. Im Neuen Testament lesen wir: »Ein
jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn.« (Jakobus 1,
19) Die Nachbarschaft von Zorn und Rede ist gewiss nicht zufällig
gewählt. Aber sagte nicht Wittgenstein:
»Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«? Jenes goldene
Schweigen zu brechen, ist eine Geste, die jedes Mal aufs Neue wohlüberlegt sein
will.
Radu Malfatti hören: Darenootodesuka
(2012) Stille ist ein zentrales Moment in der Musik des
österreichischen Posaunisten und Komponisten Radu Malfatti. Über
seine Kompositionen sagt er: »Alle meine Stücke beginnen mit Stille, die auch
während eines Klangs präsent bleibt, davon nur zugedeckt wird. Danach ist die
Stille jedoch nicht mehr dieselbe.«
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Si
tacuisses, philosophus mansisses oder wie der Österreicher sagt:
Hätts’t die Pappn g’holtn, hätt kaner g’merkt, dass’d deppat bist.
Während die einen in religiösen Bezügen nach Gott oder im spirituellen
Kontext schweigend ihr wahres Selbst suchen, kann Schweigen durchaus auch
grundlagenloser Selbstdarstellung zuträglich sein. Manchmal hilft schon die
kurze Redepause, um zu einer angemessenen Reaktion in sonst aufbrausenden
Dialogen zu finden. Wobei Wortlosigkeit aggressiver sein kann als die
schlimmsten Verbalinjurien. Neurologische
Studien zeigen, dass die Gehirnregion, die im menschlichen Cortex für das
Erkennen unterschiedlicher Schmerzintensitäten verantwortlich ist, durch die
Konfrontation mit strafendem Schweigen aktiviert wird – es verstört, verletzt,
beleidigt und wird gern als Waffe eingesetzt. Wer schweigt, hat Macht.
Besonders viel Macht
hat der, der verschweigt. Er gibt Geheimnisse nicht preis, die (meist ihm
selbst) schaden könnten. Wer Dinge für sich behält, die andere betreffen,
ist verschwiegen. Wenngleich vom selben Wortstamm kommend, hat
Verschweigen etwas Rabiates, fast Heimtückisches, während die
Verschwiegenheit sanft und gütig klingt. Lange Zeit galt sie als
gesellschaftliche Tugend, obwohl schon Freiherr von
Knigge im Jahre 1788 beklagte, dass sie »wirklich täglich seltener« werde.
Nicht umsonst wurde sie in Mozarts Zauberflöte zu einer der drei freimaurerischen
Tugenden erhoben – wobei nur der edle Prinz Tamino, nicht aber der
einfältig plapperhafte Papageno die der Feuer- und Wasserprobe gleichwertige
Schweigeprüfung bestand. Warum eigentlich gab Mozart dem Schweigsamen die Flöte,
dem Geschwätzigen aber das Glockenspiel zur Hand?
Das Verpfeifen – to
blow the whistle – vornehm Whistleblowing
genannt, ist inzwischen so angesehen, wie es einst die Diskretion war. Meist
sind es Mitarbeiter eines Unternehmens, die dort Missstände aufdecken und
öffentlich machen – Edward Snowden und Julian Assange sind wohl die
prominentesten Beispiele. Wer weniger heldenhaft auftreten möchte, kann sich
inzwischen hinter der EU-Richtlinie
zum Hinweisgeberschutz geborgen fühlen oder dank Hinweisgeberplattformen
auch anonym bleiben. Ist das Unerkanntbleiben überhaupt der Schlüssel zur
Geschwätzigkeit in den Sozialen Medien? Auch wer den allerfeinsten Shitstorm
ausgelöst hat, kann am Ende so tun, als ob er
geschwiegen hätte … [sib]
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Die Anonymität
des Internets sollte eigentlich die Schweigespirale
durchbrechen. Elisabeth Noelle-Neumann hatte in den 70er-Jahren die Theorie
erstellt, dass Menschen ihre Meinung eher öffentlich äußern, wenn sie davon
ausgehen, dass sie dabei die Mehrheit hinter sich haben. Weil diejenigen, die
sich dagegen in der Minderheit fühlen, schweigen, setzt sich schließlich die
vermutete Mehrheitsmeinung durch und wird also zur echten Mehrheitsmeinung.
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Fujiko Nakaya, Fog
Environment #47660 Children's Park, Showa Kinen Park, Tachikawa, Tokyo Japan,
1992
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Fujiko Nakaya, Maldives
Fog, Maldives, 2012
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Fujiko Nakaya, Fog x
Flo, Franklin Park, Boston, 2018
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Fujiko Nakaya, Tales of
Ugetsu
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Nix sagen, nix hören, nix sehen
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Die studierte
Sprachwissenschaftlerin Galina Herzig ist bei Carglass als Direktorin Sales &
Marketing zwar nicht die Erfinderin, aber verantwortlich für jenen
omnipräsenten, im Film mal kurz
weltweit durchdeklinierten Jingle – Sie hören ihn auch schon, oder? Eine
der
betreuenden Agenturen verklärte ihn bei der Übernahme des Etats 2018 –
natürlich »glasklar« – zur »Popkultur«: Kern der »Strategie ist es, die enorme
Markenbekanntheit noch stärker in Brand Love zu übersetzen – und zwar intern wie
extern.« Wie das wohl funktionieren soll? Nach Kevin Roberts Theorie zu Love
Brands sind es drei Faktoren, die geliebte Marken ausmachen:
Mystery – »erzählt die Marke eine Geschichte? Inspiriert ihr Storytelling
den Konsumenten und verleitet ihn vielleicht sogar zum Träumen?«
Sensuality – »ist die Marke mit den Sinnen erfassbar? Hat sie einen
eigenen Sound, ein typisches Aussehen oder eine bestimmte Haptik?« Und:
Intimacy – »ist es dem Kunden möglich, eine emotionale Beziehung durch
Empathie, Leidenschaft und Hingabe zur Marke aufzubauen?« Zumindest einen
eigenen Sound hat die Marke schon, aber sonst?
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In der 8daw-Ausgabe
BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir
uns unter anderem mit dem Thema
geschlechterspezifische Schreibweise
beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung
eines Lesers für uns am geeignetsten:
»Der Mittelpunkt (MacOS: Shift+Alt+9;
Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der
Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger
den Lesefluss der Leser·innen, weil er
nicht nach Fußnoten ruft und auch keine
Textlücken reißt wie der Gender_Gap.
Im Hinblick auf Lesbarkeit und
Typografiequalität also eine bessere
Alternative, und inhaltlich – als
Multiplikationszeichen verstanden – treffend.
Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch
frei, ob sie den Mittelpunkt oder
eine andere Form benutzen.
Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind
jedenfalls geschlechtsneutral
zu verstehen.
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8daw ist der wöchentliche Newsletter von
Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den
Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik,
Unternehmen und Organisationen. Er erscheint
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setzt so die langjährige Tradition der
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in neuer Form fort. 8daw versteht sich als
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Photo: Melissa Ostrow 12 – Nacasa & Partners
Inc. / Fujiko Nakaya
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