ei8ht days
a week – Streifzüge durch den Wandel
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mit Boris Kochan und Freunden am 24.
Juni 2022
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Sehr
geehrte Damen und Herren,
irgendwann hat mir
als Kind mal jemand erklärt, dass die Sache mit dem Spiegel ganz einfach
ist: Wenn Du den Anderen siehst, sieht er Dich auch. Ob aber das, was Du im
Spiegel siehst, irgendetwas mit der Wirklichkeit zu tun hat, ist nicht nur
im Gespiegelten mehr als fraglich. Viel zu sehr sehen wir uns das Gesehene
zurecht, verzerren die Wirklichkeit nach unseren Erfahrungen und
Vorstellungen.
Daran musste ich
denken, als der emeritierte Ästhetik-Professor, Kunsttheoretiker und Action
Teacher Bazon Brock in dieser Woche in seiner unnachahmlichen Art über
seine Sicht zum documenta-Skandal räsonierte: Sie »zeigt
triumphal, als ganz große demonstrative Leistung, was gegenwärtig in der
Welt der Fall ist«. Die documenta fifteen als Wirklichkeits-, oder
besser: Wahrheitsmaschine? Brock weiter: In allen totalitären Regimen »von
Putin, Erdogan bis Xi Jinping wird die Front des Kulturalismus gestärkt«,
und längst wird auch im Westen »nur noch das Kollektiv der Kulturen
anerkannt«. Für ihn ist diese documenta vielleicht die Beste, die es
je gab, denn sie zeigt ungeschminkt, dass »jede Autorität durch Autorschaft,
die einmal das Prinzip der westlichen Intellektualität war, ein für alle Mal
liquidiert wird«. Antisemitismus ist für ihn dabei nur eine Form der
Kulturalität. Starker Tobak, pardon: Sichtweise, oder?
Designer·innen
haben so ihre Erfahrung damit, dass es bei ihren Projekten zwar gerne um
Authentizität gehen soll … aber das wirklich Wahre abbilden? Wer hält das
schon aus, zumal zugleich und stets politische Korrektheit eingefordert
wird. Und so mag für viele gestalterische Aufgabenstellungen gelten, was Olaf Leu vor
ein paar Tagen in
Vorbereitung auf sein letztes Interview von Rabbi Schloime Rosenbach
zitierte: »Wahrheit ist das wertvollste aller Güter und soll gehandhabt
werden mit Sparsamkeit und Zurückhaltung.«
Ich wünsche Ihnen ein entspanntes, am besten spiegelfreies Wochenende!
Boris Kochan
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Diese 8daw-Ausgabe wurde
zu einer Doppelausgabe der Kalenderwochen 24 und 25 – weil wir die Idee, uns mit
Wahrheit und Design zu beschäftigen nicht nur ein wenig unterschätzt
hatten. Aber so ist das nun mal mit der Wirklichkeit: stets und zuverlässig holt
sie einen ein.
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Wahrheit ist relativ –
was sich spätestens bewahrheitet, wenn die gefühlte Wahrheit das Gefühl von
Wahrheit relativiert. Auf das Schönste betreibt dies die Grafikabteilung der SZ
mit ihrer Infografikserie …
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Im Halbschatten sich
überschlagender Kriegs- und Krisenmeldungen tagt seit dem 9. Juni der
Untersuchungsausschuss zur Klärung der Verstrickung Donald Trumps in den
Sturm auf das Kapitol. Dabei trat ein vertracktes juristisches Problem
zutage: Es müsste dem Ex-Präsidenten zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass er
selbst im Grunde nicht an einen Wahlbetrug der Demokraten glaubt, damit
von einer wissentlich kriminellen Verschwörung mit Trump als Drahtzieher
ausgegangen werden könne. Andernfalls bliebe nur das bittere Eingeständnis, dass
der Mann allen Einwänden von Beratern, Ex-Justizministern und Richtern zum
Trotze zutiefst von der Wahrheit seiner Behauptungen überzeugt sei – und das
wäre für eine Anklageerhebung eher ungünstig. Fortgeschrittenes Irre-Sein könnte
man ihm dann noch unterstellen, aber von solchen Anwürfen bleibt am Ego dieses
Mannes (und bei seinen Anhänger·innen) bekanntermaßen so viel hängen, wie vom
Spiegelei an der Teflonpfanne.
Nun
könnte man einwenden, dieses ganze Gerede von der Wahrheit sei doch
hirnrissig, wo doch nun wirklich bewiesen sei … Aber ganz so einfach ist
es verwirrenderweise nicht. Zwar glaubt so ziemlich jeder Mensch, dass es so
etwas wie Wahrheit gibt, aber was das denn genau und an sich ist, darüber wird
trefflich gestritten. Anhänger·innen der Konsenstheorie
zum Beispiel gehen davon aus, dass etwas wahr ist, das für alle
Menschen unter idealen Bedingungen rational akzeptierbar ist. Aber was sind
schon ideale Bedingungen, erwidern da die Vertrer·innen der Kohärenztheorie?
Sie meinen, dass Überzeugungen nur dann wahr sein können, wenn sie Teil eines
kohärenten Systems von Überzeugungen sind, die in sich logisch und nicht
widersprüchlich sind. Und wo bleibt da bitte das Individuum in all seiner
Fehlbarkeit, fragt
schließlich der kritische Rationalist Carl Popper? Auch er geht
davon aus, dass es so etwas wie Wahrheit gibt, aber tatsächlich sei sie
unerreichbar und wir Menschen nur auf dem Weg dahin. Irrungen und Wirrungen
inbegriffen. Das brachte Popper dazu, auch die Intuition als Kategorie der
Wahrheitssuche einzuführen und mit ihr das Gewissen, das von Gewissheit kommt.
Und das er über jede andere Macht stellte. Daran knabbert jetzt der
Untersuchungsausschuss in Washington: Redlichkeit und Duldsamkeit empfahl
Popper seinen Mitmenschen. Erstere kann Trump trotz aller Beweislast offenbar
noch immer nicht juristisch (!) abgesprochen werden und Zweitere ist den
Mitgliedern des Untersuchungsausschusses zu wünschen – und uns, falls Trump
tatsächlich wieder zur Wahl antreten sollte. [um]
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Die Wahrheit zwischen Bauhaus und Memphis
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Die
Wahrheit? Sie hängt wohl von der Wirklichkeit ab. Vom Standpunkt, auf dem man
steht, der Perspektive, die man einnehmen kann, den Erfahrungen, die man gemacht
hat, der Kultur, der man zugehörig ist. Der Mathematiker und Logiker (!) Alfred
Tarski sagt schlicht: »Schnee ist weiß, ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß
ist.« Die Wirklichkeit macht also eine Aussage wahr. Ziemlich frei nach Hegels
»Die Wahrheit der Absicht ist die Tat« ließe sich dann auch sagen: Die Wahrheit
der Absicht tritt im Design zutage.
Als Marcel Breuer
1925 seinen
Stuhl Wassily entwickelt, treibt ihn die Vorstellung, dass sich
jeder Mensch schöne Möbel leisten können sollte, dass in einem Raum nicht das
Möbel, sondern der Mensch zentral steht … die Form die Funktion des Möbels
unterstützt. Solche Haltung führt zu neuer Auseinandersetzung mit dem Material
und der Herstellungsweise. Stahlrohr macht die für solche Ziele notwendige
serielle Fertigung möglich. Auf Ornamentik wird komplett verzichtet – es geht
schließlich ums Sitzen. Rückenlehne, Arm- und Seitenlehnen schwingen –
Wassily ist bequem und befreit den Menschen aus der Dominanz fetter
Fauteuils: Die Wahrheit der Absicht tritt im Design zutage.
Eine Reihe von Künstlern und Gestaltern um Ettore Sottsass
gründete 1980 die
Gruppe Memphis. Mit leuchtender, auch schriller Farbigkeit,
gewagten Material- und Formkombinationen, mit heiter-unbeschwerten Mustern setzt
sie einen fulminanten Kontrapunkt zum gediegen-seriösen oder kühl-funktionalen
Möbeldesign der 1970er Jahre. Eine Zeit – die geprägt ist von Ölkrisen, dem
Geiseldrama der Olympischen Sommerspiele, von Watergate und Guillaume-Affäre.
Diese Jahre, durch die Bhagwan oder auch die Punks trudeln, tränken die
Memphis-Designer mit munterer Farbigkeit, überbordender Kreativität,
unbekümmertem Kitsch, schräger Materialwahl und einer großen Portion Humor. Nach
sechs Jahren ungezügelter Produktivität löst sich die Gruppe Memphis auf.
Kein Wunder, dass ihr Stil heute ein Revival erlebt, oder?
Um mit Friedrich
Schlegel noch einmal auf die Wahrheit zurückzukommen: »Es gibt keine wahre
Aussage, denn die Position des Menschen ist die Unsicherheit des Schwebens.
Wahrheit wird nicht gefunden, sondern produziert. Sie ist relativ.« [gw]
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Wie die Gruppe
Memphis in Wahrheit zu ihrem Namen kam? Im Dezember 1980 versammeln sich
in der Mailänder Wohnung von Ettore Sottsass Designerinnen und Designer wie
Michele de Lucchi, Barbara Radice, Matteo Thun und andere, um über
Gestaltungsauffassungen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu sprechen.
Während dieses ersten Treffens lief der Bob-Dylan-Song Stuck Inside of
Mobile with the Memphis Blues Again in Dauerschleife – der Name der
Designergruppe war gefunden. So einfach kann das (manchmal) sein.
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Sind wir doch mal ehrlich …
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ATTITUDE
wird auf der Website des Studio
f.a.porsche ganz groß geschrieben und die Haltung auch sogleich
manifestiert: »Good Design must be Honest.« Nach seinem Leitsatz ließ
Professor Ferdinand Alexander Porsche, der einst das Porsche-Designstudio in
Stuttgart leitete, 1963 den Porsche 911 entwickeln, als eine Art Prototyp
ehrlichen Designs: Eine Ästhetik, die sich aus der Funktion ergibt, präzise,
langlebig, ohne viel Schnickschnack – zu seiner Zeit gemäß der
10-Thesen-Definition von Dieter Rams ein ganz aufrichtiges Produkt,
das »nicht innovativer, leistungsfähiger, wertvoller« erscheint, »als es in
Wirklichkeit ist. Es versucht nicht, den Verbraucher durch Versprechen zu
manipulieren, die es dann nicht halten kann.«
Wie sich die
Produktpalette des Designstudios erweitert hat um Uhren, Brillen,
Kugelschreiber, Haushaltsgeräte und mehr, ist um das Samenkorn »Gutes Design
soll ehrlich sein« – und der Kern liegt ja hier in der Anweisung! – bei
Porsche ein ganzes Wortfeld gewuchert: Begriffe wie Ehrlichkeit,
Authentizität, Wert, Haltung besiedeln die (von beflissenen
Kommunikationsdesignern?) durchpflügte Ackerkrume. Und all die Werte und
Grundhaltungen lassen sich nicht nur im Unternehmen leben, sondern auch noch
verkaufen? »Man kauft nicht mehr nur einzelne Produkte, man kauft einen ganzen
Lebensstil: eine Ästhetik, ein Gefühl, ein Set von Werten und Überzeugungen.
Die Marken, etwa Porsche oder Porsche Design, helfen ihren Kunden dabei, das
eigene Leben zu kuratieren«, heißt
es bei Porsche.
Dabei muss man
nicht einmal die mögliche Manipulation von Abgaswerten im Mutterkonzern
bemühen, um sich zu fragen, ob da nicht gerade ein (Aus-)Verkauf von Werten
stattfindet? Ob Straßenboliden, selbst mit Elektroantrieb, zeitgemäß sind? Ob
geländegängige E-Bikes, die noch den letzten Quadratmeter unberührter Natur
muskelkräftesparend erschließen, umweltfreundlich und gesundheitsförderlich
sind? Oder die Gestaltung jener Raumstation, von der
Managing Director Roland Heiler im Interview träumt, echt nachhaltig
ist? [sib]
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Sie suchen den Traumjob?
Wir bieten Ihnen die ungewöhnlichsten Benefits in entspannter Arbeitsatmosphäre
im nettesten Team mit perfekter Work-Life-Balance … Lüge! Porsche setzt auf
ehrlich und lässt in seiner
Recruiting-Kampagne MitarbeiterInnen über ihre schlimmsten Versagen
sprechen. Ehrlich? Aber auf jeden Fall gut gemacht!
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Mindesthaltbarkeitsdesign
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Gutes Design ist ehrliches Design, so titelt der
Premium-Autohersteller Lexus die Bekanntgabe des Lexus Design Award 18 –
People‘s Choice. Aus zwölf Finalisten wählte das Publikum die Arbeit Honest
Egg: Eine spezielle Tinte reagiert beim Ehrlichen Ei auf sich
verändernde CO2-Werte oder Risse in der Eierschale und zeigt die tatsächliche
Haltbarkeit an – unabhängig vom eventuell angegebenen Mindesthaltbarkeitsdatum.
Honest Egg wirkt der Verschwendung von Lebensmitteln entgegen: sinnvolles
Anliegen, schlaue Idee, ehrliches Design – ein durchaus unprätentiöser
Beitrag zur Wahrheitsfindung. Dabei bleibt offen – wie so oft bei Wettbewerben
–, wer da eigentlich mit was welche Ziele verfolgt: Eine einfache Verbindung zur
japanischen Luxusmarke Lexus lässt sich beim Lexus Design Award jedoch nicht
wirklich herstellen: Das Auto, gar das Lexus-Luxusmobil gilt ja nicht als
(wahrer) Treiber für zukunftsfähiges, klimaschützendes, nachhaltiges Agieren. In
der Unternehmenskommunikation findet sich selbst unter dem Stichwort Design
mit Haltung keinerlei Hinweis auf ökologische oder gesellschaftliche
Verpflichtung. Der
Wettbewerb Lexus Design Award selbst folgt allerdings einem
Prozedere, das jungen Designern durchaus nützlich sein kann: Den Finalisten wird
neben einem Realisierungsbudget ein renommierter Designexperte zur Seite
gestellt, der als Mentor bei der Umsetzung einer Idee unterstützt. [sib/gw]
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In der 8daw-Ausgabe
BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir
uns unter anderem mit dem Thema
geschlechterspezifische Schreibweise
beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung
eines Lesers für uns am geeignetsten:
»Der Mittelpunkt (MacOS: Shift+Alt+9;
Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der
Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger
den Lesefluss der Leser·innen, weil er
nicht nach Fußnoten ruft und auch keine
Textlücken reißt wie der Gender_Gap.
Im Hinblick auf Lesbarkeit und
Typografiequalität also eine bessere
Alternative, und inhaltlich – als
Multiplikationszeichen verstanden – treffend.
Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch
frei, ob sie den Mittelpunkt oder
eine andere Form benutzen.
Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind
jedenfalls geschlechtsneutral
zu verstehen.
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8daw ist der wöchentliche Newsletter von
Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den
Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik,
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WAHRHEIT: Süddeutsche Zeitung
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