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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 2. Juli 2022

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

»fremd ist der Fremde nur in der Fremde.« Auf die Nachfrage von Liesl Karlstadt, warum es dieses Gefühl von Fremdsein gäbe, antwortete ihr kongenialer Partner Karl Valentin: »Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist, und zwar so lange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt – dann ist er kein Fremder mehr.«

Fremd im eigenen Land haben sich in dieser Woche durchaus einige gefühlt – als der bayerische Ministerpräsident einmal mehr alle Klischees ausgepackt hat, die das Bild von Deutschland in der Welt prägen: Volkstümelndes Marketing mit Trachten – die Maß und Bayern München, das Hofbräuhaus und das Oktoberfest … und natürlich grüne Weiden mit braunen Kühen vor Schloss Neuschwanstein lassen freundlich grüßen.

Ich frage mich dabei allerdings, ob Markus Söder nicht eine der übelsten Formen kultureller Aneignung – korrekt Cultural Appropriation genannt betreibt, wenn er ausgerechnet als Franke die oberbayerischen Gebirgsschützen zur Begrüßung des amerikanischen Präsidenten in die Luft schießen lässt? Oder wer eignet sich hier eigentlich wen an: Deutschland Bayern oder umgekehrt? Womit wir mitten im Thema sind: Image und Identität, Cancel Culture und Kulturalismus. Die documenta kann ein Lied davon singen, dass es einen großen Unterschied macht, ob etwas inhaltlich spannend oder politisch korrekt ist. Oder in diesem Fall auch nur einfach sehr provinziell unbedarft.

Die Biermösl Blosn, jene typisch bayerische Form des (sehr etablierten) Undergrounds wissen nur allzu genau, wie sich Kulturalismus anfühlt und durchbrechen allerliebst in ihrem Begrüßungstext Welcome to Bavaria die allgemeine (sehr bayrische) Gemütlichkeit: »If you come from America, welcome to Bavaria / But if you come from Africa, f**k off from Bavaria / No beer from groußen Maß / No Weißwurscht and Leberkas / Nix holleri and hollera / Nix Radi, Brezn, Obazdaaaa«.

Ich wünsche Ihnen ein unbeschwertes Wochenende!
Boris Kochan

 

Auch Mode, auch Kleidung ganz grundsätzlich ist – oder zumindest: kann – politisch sein. Der Trachtenjanker des bayerischen Ministerpräsidenten ist ein sinnfälliges Statement, der Hijab kann es genauso sein – muss aber nicht. Zumal es dazu noch einmal sehr unterschiedliche Auffassungen zwischen Trägerin und Nicht-Träger·in geben mag. Der Kleidermacher Kallol Datta hat sich damit beschäftigt, welchen Hass ein Kleidungsstück auslösen kann – und den Hijab in neue Zusammenhänge gestellt. Aktuell stellt das Londoner Victoria and Albert Museum seine Kreationen aus, bei der unter anderem ein Mann den Hidschab trägt. Einen kleinen Ausschnitt zeigen wir in dieser 8daw-Ausgabe.

 

Die nächste 8daw-Ausgabe wird sich mit bürgerlichen Anlässen beschäftigen, mit gutbürgerlichem Essen und spießigen Verhaltensweisen. Das Erscheinen zu einem fixen Termin wird deswegen abgelehnt – Termintreue ist doch etwas zutiefst Bürgerliches, oder?


 

All Lives Matter
 

Was unter Kulturalismus verstanden wird, zeigt sich ziemlich divers. Der Philosoph Prof. Peter Janich etwa grenzt den Begriff gegen den Naturalismus ab. So wäre das Pflanzen eines Baumes kultürlich, das Wachsen von Ästen und Blättern aber natürlich. Häufiger bezieht sich Kulturalismus jedoch auf die eigene Kultur in Abgrenzung oder im Zusammenspiel mit anderen Kulturen. So fordert Theodor W. Adorno: »Das vornehme Wort Kultur trete anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse.« Der Kulturwissenschaftler Dr. Arata Takeda unterscheidet zwischen abwertendem, strukturellem und wohlwollendem Kulturalismus. Wobei der abwertende Kulturalismus die als überlegen geltende Eigenkultur schützen will, der strukturelle zwar nicht die Überlegenheit der Eigenkultur fordert, doch für diese den Führungsanspruch erhebt. Bei aller Gefahr der Vereinnahmung heißt der wohlwollende Kulturalismus aber kulturelle Vielfalt als Bereicherung willkommen und strebt danach, die von der Eigenkultur unterschiedenen Fremdkulturen in ihrer Andersheit zu bewahren.

Seit dem gewaltsamen Tod von George Floyd ist das Thema Rassismus auch bei uns – wie sagt man doch so? – in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es wird ebenso offen wie breit und hitzig debattiert, Konferenzen werden einberufen, Anschuldigungen erhoben. Medien werden für »verzerrte, stigmatisierende oder rassistische« Berichterstattung mit der Goldenen Kartoffel ausgezeichnet. Bei der fünften Jahrestagung der Initiative Kulturelle Integration spricht der Soziologe Aladin El-Mafaalani – seine Überlegungen hat er in einem lesenswerten Buch unter dem Titel Wozu Rassismus? veröffentlicht. Und wirkt durch seine differenzierte Analyse klärend, entspannend und befriedend. [gw]

 

Für das oben verwendete Wort Eigenkultur gibt es im Duden keinen Eintrag, auch bei Wikipedia finden sich nur Hinweise auf Artikel, in denen der Begriff vorkommt. Auf Georg Kreislers Album Lieder zum Fürchten gibt es einen Song unter dem Titel Der Ausländer, der das Eigene und das Andere ziemlich böse in Szene setzt: »Vor der großen Kirche auf dem Hügel / Bleibt der Schurke endlich stehn / Und er reißt die Augen auf / Als hätt' er diese Kirche nie gesehn! / Das ist wieder typisch! / Jetzt geht er in die Kirche rein, so ein Skandal! / Obwohl ich Schweizer bin / War ich noch niemals drin! / Doch dieses Mal / Bleibt mir keine Wahl – / Fatal!«


 

Thaicurry statt Schinkenbrot
 

Begrüßungsküsschen statt Handschlag, Thaicurry statt Schinkenbrot, Futon statt Boxspringbett – macht sich, wer solcherlei Gebräuche und Gerichte in sein Leben lässt, der viel gescholtenen Cultural Appropriation, der kulturellen Aneignung schuldig? Wo er sich dabei doch modern und weltoffen fühlt – bestenfalls als Teil des wohlwollenden Kulturalismus, wie ihn der weiter oben bereits erwähnte Arata Takeda nennt. Der damit Menschen bzw. Kulturen beschreibt, die nicht auf den engen Grenzen der eigenen Identität pochen, sondern mit Freude vielfältig Anderes integrieren.

Doch auch in dieser vermeintlich wertschätzenden Form scheint sich Diskriminierung zu verstecken – weil jegliche Art des Kulturalismus von der Einheitlichkeit und Unveränderbarkeit fremder Kulturen ausgeht: Was es wirklich kompliziert macht, weil wohlmeinend und somit wohlscheinend! Ist diese Ausprägung doch so viel schwerer angreifbar als ein Alexander Dobrindt mit seiner im Zuge der Migrationsdebatte wiederbelebten Terminologie von Kulturkreisen und Leitkultur … die eine echte Integrierbarkeit des Fremden sehr grundsätzlich infrage stellt.

Wer würde mit dem Begriff des Kulturkreises keinen in sich abgeschlossenen, strikt abgezirkelten Raum verstehen, umgeben bestenfalls von einer semipermeablen Membran, die nur in eine Richtung durchlässig ist: nach außen. Kulturen aber vermischen sich – und haben das im Übrigen (wohlgemerkt auch jenseits von Kolonialismus) immer schon getan. »Denn die Diversität, die wir heute als Kennzeichen einer entwickelten, emanzipierten Kultur ansehen, ergibt sich erst aus der Entfesselung von Appropriationen,« schreibt Jens Balzer in einem Beitrag in der Zeitung des Deutschen Kulturrats, Politik & Kultur, zur Ethik der Appropriation. »Es gibt kein Jenseits der Appropriation; es ist sogar so, dass jede emanzipatorische Form der Kultur notwendig eine appropriierende ist.« [sib]


 

Frei oder gleich oder …
 

Als der Physiker Alan Sokal 1996 in einem vom Wissenschaftsmagazin Social Text veröffentlichten Beitrag behauptete, dass das ganze »naturwissenschaftliche Wissen« lediglich »die herrschenden Ideologien und Machtverhältnisse derjenigen Kultur widerspiegelt, die dieses Wissen hervorgebracht hat« und folglich nur ein soziales bzw. kulturelles Konstrukt sei, führte das zu einem veritablen Skandal. Allerdings erst, als Sokal erklärte, dass sein Text nur eine Parodie sei, mit der er den Kulturalismus durch den Kakao ziehen wolle. Der nämlich verspricht sich von der Betrachtung der sozialen oder kulturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft mehr Wahrheitsgewinn als von den Naturwissenschaften.

Auch seriöse Sozialwissenschaftler·innen kritisieren im Übrigen einen solchen Reduktionismus und sprechen lieber vom Cultural Turn, der die Kultur und soziale Verfasstheit einer Gesellschaft als Parameter von Weltwahrheit anerkennt. Aber eben nicht überbewertet … und das ist der entscheidende Punkt. Ein Ansatz, der sich vor allem dem Soziologen Stuart Hall verdankt, der bereits in den sechziger Jahren mit seinen Cultural Studies diesen Weg einschlug.

Spätestens im Zuge der Globalisierungskritik hat sich dieser Ansatz in Politik, Wissenschaft und auch in der Kunst weitestgehend durchgesetzt. Es galt und gilt, den von Kolonialismus und Imperialismus unterdrückten Ethnien des globalen Südens eine Stimme im Wettstreit über die Deutungs- und Schöpfungshoheit von Weltwissen und der Behauptung von kultureller Relevanz zu geben. Indes, die ehrenwerte Absicht bringt auch unerwünschte Nebenwirkungen mit sich. Die notwendige Weitung des Kulturbegriffs, der nun nicht mehr nur spezifisch ethnische Gegebenheiten fokussiert, sondern gleichermaßen Religion, Geschlecht, sozialen Status, politische Einstellungen, Institution etc., hat sich in Teilen bedenklich verengt. Denn plötzlich geht es nicht mehr nur um den globalen Süden, sondern gleichermaßen um gesellschaftliche Gruppierungen verschiedenster Provenienz mit je eigenem Anspruch. Solche kulturellen Kollektive, die auch die Fragmentierung der Gesellschaften des globalen Nordens abbilden, haben mancherorts (auch qua Lautstärke) die Diskurshoheit erobert – und das im Namen von Identität und Political Correctness.

Damit kommt ein rigider Kulturalismus wieder zur Hintertür herein. In seiner verschärften Form erkennt der nur noch die je eigene Wahrheit an. Und was oder wer da nicht hineinpasst, wird schlicht gecancelt. Wenn aber dem menschlichen Subjekt verwehrt wird, »Autor seiner eigenen Lebensgeschichte zu sein«, wie Jürgen Habermas mit Blick auf die freie Entfaltung des Individuums schrieb, droht Totalitarismus. [um]

 

Die Behauptung einer Antinomie von Freiheit und Gleichheit versammelt gleichermaßen Kritiker·innen wie Befürworter·innen hinter sich. Unterm Strich – so zeigt es sich – ist die Theorie also reichlich unentschieden. Interessant ist da die empirische Untersuchung politischer Praxis, die entgegen der Annahme eines unversöhnlichen Entweder-Oder eher ein Sowohl-als-Auch nahelegt. Darauf jedenfalls lassen die Ergebnisse einer Studie von Heiko Giebler und Wolfgang Merkel schließen, deren Resumé in den Frankfurter Heften veröffentlicht wurde.


 

Kulturelle Handreichungen
Martina Wember zeichnet zu Habitus und Aneignung
 

Kalender
Veranstaltungen, Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion
 

2. und 3. Juli 2022, Berlin

The White West IV:
Whose Universal?


Whose Universal? ist Teil einer Konferenzreihe der Akademie der Künste in Berlin mit Vorträgen und Diskussionen zur Beziehung zwischen Siedlerkolonialismus und Faschismus.

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15. Juli 2022, München

Im Gespräch: Julia Peglow und Boris Kochan


Gerade wird noch am Programm und am Titel gebastelt – aber Termin, Ort und Uhrzeit stehen schon fest: Bitte den Freitag, 15. Juli ab 19:30 Uhr in der Buchhandlung Moths vormerken!


Das Fundstück der Woche

 
 

»Er ist in London …« soll es des Öfteren geheißen haben, wenn ungebetene Gäste Georg Bernard Shaw sprechen wollten – und das vielleicht auch noch unangekündigt. Die Wege sich abzuschotten, um in Ruhe einem Gedanken nachzugehen, zu lesen oder zu schreiben sind vielfältig. Shaw hatte eine wirklich kleine, aber bestens ausgestattete Hütte im Garten – und hat sie augenzwinkernd London getauft. Der zusätzliche Clou: Weil er die Sonne und das natürliche Licht liebte, ließ sich die ganze Hütte ohne großen Aufwand auf einer Drehscheibe drehen.


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
© Kallol Datta


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