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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 12. Juli 2022

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

magst mich beleidigen? … war die Antwort auf Glückwünsche zum Geburtstag, die ich als pubertierender Jugendlicher nur allzu gerne von meinem Grafik- und Typografie-Lehrer übernommen habe: alles bürgerlicher Scheißdreck! Er hätte auch nie zugelassen, dass ich von Lehrer gesprochen hätte – wir waren ja schließlich ein Kollektiv. Und nur in Sachen Reval ungleich – natürlich war es Usus, dass entweder mein nur unwesentlich älterer Kollege Herbert oder ich ihm die Schachtel von der Tanke geholt haben. Wieland Sternagel, der eigentlich Kunstlehrer werden wollte – wenn er als DKP-Mitglied nicht wegen des Radikalenerlasses keine Zulassung bekommen hätte –, hat mich weit mehr geprägt, als es mir lange Zeit bewusst gewesen ist: Die Gerade musste freihändig gezeichnet werden können, Layouts wurden mit Uhu und nicht mit Fixogum geklebt – und jegliche Genauigkeit war stets absolut und relativ zugleich. Menge hat uns alle fasziniert – wie viele Seiten eines Buches lassen sich eigentlich aus den schier unendlich langen Composersatz-Fahnen auf Barytpapier in einer Nacht kleben? Bis heute steht ein sehr spezielles Leuchtpult in meinem Münchner Arbeitszimmer – mit Linealführung im rechten Winkel! Ich gestehe: Ein Arbeitsleben ohne ein solches Teil kann ich mir bis heute nicht vorstellen (auch, wenn es von irgendwem seit vielen Jahren eher zur Ablage genutzt wird).

Warum kommen mir diese Gedanken gerade jetzt? Etwas überrascht habe ich aus gegebenem Anlass an mir entdeckt, dass ich mittlerweile viel gelassener in Sachen Geburtstag(sablehnung) geworden bin. Nicht nur wegen meiner Kinder … für die (und mit denen) ich mit zunehmender Lust Weihnachtsbaumalternativen und Geburtstagsumdeutungen erfunden habe. Nein, ich habe sehr viel grundsätzlicher Frieden geschlossen mit dieser langzeitschrecklichen, so bürgerlichen Geburtstags­feierei.

Bürgerliche Anlässe sind eine gute Gelegenheit über sich selbst nachzudenken – und so den Wandel an sich selbst und in der Gesellschaft festzustellen. Oder auch nicht …

Herzlich
Boris Kochan

 

Wie versprochen konnte diese Ausgabe in der letzten Woche unmöglich routinegemäß irgendwann zwischen Freitag und Samstag erscheinen – das wäre allzu bürgerlich eng gewesen. Zumal weite Teile der 8daw-Redaktion aus dem oben beschriebenen bürgerlichen Anlass kollektiv einen Ausflug in den europäischen Süden unternommen hat … 

 

Die kommende Ausgabe von 8daw erscheint wegen der weiter unten näher beschríebenen  Veranstaltung Internetkinder & Bademeister bei der 8daw-Leserin und legendären Buchhändlerin Regina Moths auch wieder später – voraussichtlich am Montag, den 18. Juli.

 

Diese 8daw-Ausgabe illustrieren Gemälde des spätromantischen Malers Carl Spitzweg – seine Bilder zeigen oberflächlich eine leicht verständliche, überschaubare Welt mit Schilderungen des bürgerlichen Milieus. Mit seinem hintergründige Humor karikiert er dabei zugleich die kleinbürgerlich-schrulligen Verhaltensweisen mit Witz und Scharfsinn.


 
 

Wo ist der Reisepass? – Spitzweg machte sich über viele Bräuche seiner Zeit lustig. Auch den Behörden lieferte er gutmütigen Spott, wie in dem Bild, in dem ein Polizist reisende Musiker nach ihren Pässen fragt. Da der Polizist fränkischen Dialekt spricht, versteht einer der Musiker Bass und zeigt auf das Musikinstrument.


Ein kultureller Dauerbrenner
 

Seit der Industrialisierung schwappt gutbürgerlich durch die Welt, durch Bildung und Beziehungen, Erziehung und Wohnkultur, Vaterhaus und Küche. Dort warten solide Jäger- oder Wiener Schnitzel (mit reichlich Kartoffelsalat), sieden Knödel zum Sonntagsbraten, locken üppige Desserts – man kann es sich jetzt leisten. Vom gutbürgerlichen Mittagstisch steht niemand hungrig auf. Werte wie Bildung und Leistung, Anstand, Ehrlichkeit und Sparsamkeit führen direkt in den bürgerlichen Wertehimmel. Da hinein sickert ein wenig Glanz des Adels, dort wird anständige Geselligkeit gepflegt im Schützen-, Turn- oder Trachtenverein, beim Singen und Musizieren.

Darunter aber droht schon der Abrutsch gen Unterschicht. Spießig? Rückwärtsgewandt? Die gute Bürgerlichkeit wandelt sich kontinuierlich durch die Zeiten in neue Pflichten und Gewohnheiten. In der neuen Bürgerlichkeit sind längst Quinoa-Taboulé, Lastenfahrrad und Sneakers angekommen. Der Philosoph und Autor Alexander Grau schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung: »Nicht Thomas Manns Senator Buddenbrook ist die Inkarnation des Bürgers, sondern Robert Habeck: postmaskulin, achtsam, postheroisch und multikulturell.« [gw]

 

Spießig? Luis Buñuels Oscar-prämierte Satire über ein genusssüchtiges Bürgertum Der diskrete Charme der Bourgeoisie spießt eine Gesellschaft auf, die an längst sinnlos gewordenen Ritualen und Etiketten gnadenlos festhält.


 
 

Jagdunglück – Ein Sonntagsjäger aus der Stadt ist über Baumwurzeln gestolpert und den Hang hinuntergerutscht. Er hängt mit verrutschter Perücke hilflos am Riemen seiner Jagdtasche und hält verkrampft seine Büchse fest. Spitzweg hat dieses Malheur schadenfroh ausgemalt, indem er die vor Schrecken geweiteten Augen, die nach Halt suchende rechte Hand und die über dem Bauch gespannte Hose zeigt.


Himmel und Hölle
 

Können Sie die sieben himmlischen Tugenden auswendig aufzählen? Na? … Na gut: Demut, Mildtätigkeit, Keuschheit, Geduld, Mäßigung, Wohlwollen und Fleiß sind ihre Namen und warum ihr Bekanntheitsgrad gegenüber den sieben Todsünden einigermaßen abstinkt, ergibt sich eigentlich von selbst: Tugenden sind schön und gut und ehrenwert. Sündigen hingegen ist interessant, weil irgendwie aufsässig, mithin lustvoller. Wie günstig, könnte man da meinen, dass den himmlischen Tugenden auch eine säkularisierte Form zur Seite gestellt wurde. Die sogenannten bürgerlichen Tugenden: Ordentlichkeit, Sparsamkeit, Fleiß, Reinlichkeit und Pünktlichkeit etc. Aber richtig prickelnd ist das auch nicht.

So fing das alles an, mit dem Bürgertum: brav, fleißig und dem Himmel nahe. Dementsprechend fehlt auch hier ein bisschen der Thrill – bei allem revolutionären Aufbegehren. Das eigentliche Erfolgsrezept des Bürgertums: Es war tatsächlich die Anhäufung von Kapital und Bildung. Zum eigenen Wohl, dem Adel zum Ärger und später leider nicht nur diesem.

Alleine schon die Erfindung der bürgerlichen Dämmerung! Jene Zeit am Tage, während der das Tageslicht gerade noch ausreicht, um Zeitung zu lesen. Und während Madame und Monsieur dies genüsslich taten, malochte ein Heer von Arbeiter·innen unter erbärmlichsten Bedingungen, industrielle Revolution genannt – kurz: Hölle. Aus dem Citoyen war der Bourgeois geworden und mit ihm kam die Rückkehr des Feudalismus, dessen Überleben eigentlich schon 1848 zur Disposition gestanden hatte. Am 23. Mai berichtete die Tagesschau  bestürzt darüber, wie Reiche immer reicher und Arme immer ärmer werden. Gerade plädierte der deutsche Städte- und Gemeindebund für die Einrichtung von Wärmeräumen für Menschen, die sich das Heizen nicht mehr leisten könnten. Himmel ist was anderes. [um]

 

Wer glaubt, Krisen trügen zur Gewinnung von so etwas wie Vernunft bei, wird regelmäßig eines Besseren belehrt, was doch einigermaßen enttäuschend ist. Noch dieses Jahr sprach das Handelsblatt – Corona und sonstigen Misslichkeiten zum Trotze – gar von einem Luxustrend. Einer der Hauptprofiteure ist ausgerechnet der Automobilhersteller Ferrari. Als gäbe es kein Morgen …


 
 

Der Sonntagsspaziergang – Zwischen Naturbegeisterung und Naturferne der bürgerlichen Wirklichkeit.


Aufgespießt
 

Füdlibürger – die Schweizer haben’s zwar nicht erfunden, drücken es aber sehr anschaulich aus: Füdli ist das Hinterteil und diejenigen, die allzu gern reglos darauf hocken, sind in unserer (heutigen!) Sprache die Spießbürger. Die zeitliche Verortung ist wichtig, denn ursprünglich waren die Spießbürger ja diejenigen der Stadtbewohner, die sich mit einer Lanze gegen Eindringlinge verteidigt haben – hierarchisch über den Bewohnern der Vorstadt, die nur Pfähle besaßen, aber unterhalb der reicheren Bürger, die Söldner anwerben konnten, was schon die negative Konnotation des Begriffs vorherbestimmte. Die fand schließlich in der Studentensprache, wo der Spießbürger, auch Philister genannt, als der sich aller Kultur – zumindest der zeitgemäßen – verschließende Kleingeist galt.

Die ideologische Gleichsetzung mit dem (politisch) Konservativen ist also rasch zur Hand, zumal in einer Zeit, in der sich das Spießertum so gar nicht mehr an Accessoires festmachen lässt: Wurde der Spieß einst durchs Gelsenkirchener Barocksofa und dieses schließlich durch die Designercouch abgelöst, so taugen inzwischen ästhetische Kategorien nicht mehr zur Klassifizierung. Nicht einmal das Lebensalter, das angeblich unweigerlich ins Spießbürgertum führt, ist indiziengebend, sind doch die Schwyzer Neobünzli oder Neudeutschen Neocons nicht nur generationen-, sondern auch parteiübergreifend – Reichweite quasi von Habeck zu Höcke. Die Ursache sieht Prof. Peter Graf Kielmansegg bei einer Expertenrunde zum Thema Konservatismus in der dramatischen Beschleunigung des Wandels in der digitalen Revolution, welche die Geschwindigkeit der industriellen um ein Vielfaches übertrifft. So nennt er als eigentliche Funktion des konservativen Denkens: Was muss in einer Zeit bewahrt werden, in der sich alles zu ändern scheint? Oder mit anderen Worten: Lasst uns aufspießen, was es zu retten lohnt! Nicht unbedingt das Häkeldeckchen, aber die Umwelt vielleicht? [sib]


 
 

Die disputierenden Mönche – Während einer der Mönche auf sein Schriftstück zeigt, nimmt der andere eine ablehnende Haltung ein und deutet gleichzeitig auf seinen Verstand.


Kalender
Veranstaltungen, Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion
 
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Freitag, 15. Juli 2022 um 19:30 Uhr bei Literatur Moths in München

Internetkinder & Bademeister


Julia Peglow und Boris Kochan sind beide: Bademeister. Klingt erstmal komisch, trifft es aber am besten, wenn man seine Zeit damit verbringt, auf einem Sprossenleiter-Hochsitz am Schwimmbadrand zu sitzen und sich eine Perspektive von oben, ein größeres Bild unserer Zeit zu eigen zu machen: das Digitalzeitalter. Julia in ihrem Buch, »Wir Internetkinder – Vom Surfen auf der Exponentialkurve der Digitalisierung und dem Riss in der Wirklichkeit einer Generation« und ihrem Blog, »diary of the digital age«, Boris in seinem Newsletter »eight days a week – Streifzüge durch den Wandel«. Und noch mehr verbindet die beiden: Beide sind sie Designer, die schreiben. In diesem Book & Blog Talk tauschen sie sich aus über das Geschichtenerzählen, die echten Verbindungen im Digitalzeitalter und über das seltsame Lebensgefühl, in der Zeitenwende zu leben – und lesen aus ihren digitalen und analogen Medien.

Bitte unbedingt vorher anmelden unter: moths@li-mo.com


Das Fundstück der Woche

 
 

Wunderliche Begegnung in einem Garten im Alt Camp in der katalanischen Provinz Tarragona …


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis
Fundstück: © Gabriele Werner


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