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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 28. Oktober 2022

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

»selbst wenn unsere Kehle von den Wörtern wund wird«, »die Stimme gibt der Wahrheit eine Chance« – so endete die Dankesrede des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am vergangenen Sonntag. Mich haben die Reden dieser Veranstaltung tief berührt, »in einer Zeit, in der Worte, Positionen, Urteile uns wundreiben bis aufs Fleisch«. In ihrer Laudatio erzählt die in Moskau geborene, nichtbinäre Dramatiker·in und Romanautor·in Sasha Marianna Salzmann davon, wie Zhadan »Momente des Aufatmens durch radikale Menschlichkeit« schafft: »Solange wir unsere Sprache haben, solange haben wir immerhin die vage Chance, uns erklären, unsere Wahrheit sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können. Deswegen sprechen wir und hören nicht auf.«           

In der gestalterischen Kraft der Sprache, in der poetischen Verbindung von Fiktion und Jetzt entstehen Möglichkeiten, Möglichkeiten, mit denen sich der Alltag aushalten und die zukünftige Wirklichkeit neu denken lässt. Das Projekt Mensch braucht Hoffnung und Vision, um sein zu können. Neu, anders, quer, ja: auch queer. Der Zustand einer Gesellschaft lässt sich besonders gut daran erkennen, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht – und wie sie den Frieden verteidigt. Seit dem 24. Februar 2022 hat dieses Wort, so die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, in ihrer Einführung zur Preisverleihung, »ein anderes Gewicht bekommen. Der Klang des Wortes hat sich verändert – es herrscht Krieg. Krieg in Europa.« Ein Krieg, der »uns mit elementaren Fragen konfrontiert – und uns auch deshalb verstört, weil er viele unserer früheren Gewissheiten erschüttert.«         

Wie entscheidend wird in einem solchen Moment die Poesie, denn, wenn sie gelingt, flicht sie uns zusammen … »wir suchen und finden gemeinsame Erfahrungen und wenn es nur die Erfahrung eines geteilten Gefühls ist. Das Andere wird in der Poesie die Erfahrung des Selbst«, hat Salzmann gegen die von Wladimir Putin beabsichtigte Auslöschung der ukrainischen Kultur formuliert. Und die amerikanische Schriftstellerin Toni Morrison zitiert: »Wir sind nicht anders. Wir sind Möglichkeiten.«

Mit poetischen Grüßen zum Wochenende
Boris Kochan

 

Die beeindruckenden Redetexte der Preisverleihung sind erfreulicherweise alle auf der Webseite des Friedenspreises nachzulesen – übrigens, speziell für unsere ukrainischen Freunde, die auf Deutsch gehaltene Laudatio von Sasha Marianna Salzmann auch in einer ukrainischen Übersetzung. Und noch ein Hinweis in eigener Sache: Diese 8daw-Ausgabe Nr. 90 erscheint als Doppelausgabe der Kalenderwochen 42 und 43, weil nicht nur Markus Lanz nach 1.729 Moderationen jetzt erstmals krankheitsbedingt ausgefallen ist, sondern auch in der 8daw-Reaktion Grippe und Corona um sich gegriffen haben. Immerhin gab es so die Möglichkeit (!), auf den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in meinem Editorial näher einzugehen.

 

»Let nothing be changed and all be different.« Dieser Satz des französischen Filmemachers Robert Bresson ist mir als Erstes eingefallen, als ich die minimalistischen Werke von Dave Grossmann (wieder) entdeckt habe. Diese Bilder legen sich quer, wollen Veränderung befördern, ja, sie bleiben ein Widerhaken im Kopf, auch wenn sich das Chaos aufs Allerliebste darin ordnet. KWER war auch der Titel des von ihm gemeinsam mit Hartmut Friedrich herausgegebenen Magazins für Abstraktion, welches Grossmann auf der 2016er-Ausgabe der Editorial Design Conference QVED in einem sehenswerten Vortrag vorgestellt hat. Alles wird mit jedem von Grossmanns so fragilen wie systematischen Chaos-Unikaten anders – und als Serie entsteht zugleich eine Art Vertrauen in ein riesiges Patchwork. Er lernt dabei, wie er selbst dazu ausführt, zu akzeptieren, »dass jeder Zustand von Ordnung nur eine vorübergehende Phase ist«. Soeben ist übrigens auch ein Buch mit 1.000 geometrischen Zeichnungen von ihm erschienen: IN SHAPE. Jede einzelne der logoähnlichen Formen wurde nach geometrischen Prinzipien per Hand konstruiert und gezeichnet. Die Publikation erscheint als hochwertige, limitierte Künstleredition, inklusive einer Originalzeichnung.


 
 

Menno


Abseits der Norm
 

Thwerah, ein Ahne des Wortes quer, stromert schon durchs Althochdeutsche und wandelt sich ins Mittelhochdeutsche twerch, zwerch, querch, quer. Dazu kommen verwandtschaftliche Beziehungen zum lateinischen Verb torquere für drehen, verdrehen. Was ja auch – nebenbei bemerkt – auf eine meist wenig lustvolle Qual, Plage, die Tortur verweist. Das Wort quer hingegen wirkt anregend auf die menschliche Vorstellungskraft. Quer läuft schräg zur Laufrichtung, verlässt die ausgetretenen Pfade, weicht ab, schmeckt anders. Heiteres Querfeldein-Laufen können selbst Querulanten nicht stören. Das Wort Querulant nämlich entwickelt sich aus dem lateinischen querivor Gericht klagen, sich beschweren –, eine völlig andere Baustelle also. Querbeet aber treffen wir auf Quer- und Längsstreifen, Quereinsteiger, Querflöten, die über ein seitlich angebrachtes Mundloch den Luftstrom der Flötistin oder des Flötisten zum Klingen bringen – hohe Kunst! In der Rockmusik macht sich die Querflöte eher rar. Ian Anderson aber, Kopf der Band Jethro Tull, prägt mit seinem virtuosen Querflötenspiel in den 1970er-Jahren einen ganz eigenwilligen Rock-, Jazz-, Blues-Sound. So entdeckt die Jethro-Tull-Adaption der Bourrée von Johann Sebastian Bach in dem Bach-Thema eine treibende Jazzrock-Nummer.

Deutlich unterstreicht das Doppel-E im Wort queer eine Position, die außerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams liegt. Als Sammelbegriff hält sich das Wort offen und bietet Menschen, deren geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung nicht der zweigeschlechtlichen, cis-geschlechtlichen und/oder der heterosexuellen Norm entspricht, einen zugänglichen Identifikationsraum. Wurde der Begriff vormals eher abwertend im Sinne von sonderbar gebraucht, füllt er sich seit den 1990er-Jahren zunehmend mit Selbstbewusstsein und Stolz. Ein Heilungsprozess? Kim de l’Horizont teilt die Freude über die Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis 2022 für das Debütwerk Blutsbuch nicht nur mit der queeren Community. [gw]

 

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Sweet Collapse


Kreuz und quer durchs Metaverse
 

Es läuft nicht rund im Metaverse. Vermutungen zufolge vernichtet Mr. Meta, Mark Zuckerberg, gerade größere Teile seines Imperiums für seine Vision vom rundum glücklichen Leben im Netz. Nicht weiter verwunderlich ist, dass er dabei mit dem Marktgiganten Apple ziemlich über Kreuz liegt. Im Zeichen des Kreuzes ist ja schon so manches furchtbar schief gelaufen, wie wir nicht erst seit Hans Wollschlägers berühmt-berüchtigtem Buch über die Kreuzzüge wissen: Die bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem. Es ist schon ein Kreuz mit dem Kreuz. Nicht umsonst hat sich kreuz im Sprachgebrauch mit quer zum Synonym für Richtungslosigkeit und Chaos verbündet, lange bevor quer dank jener Bewegung missmutig-verwirrt denkender oder sich für denkend haltender Bürger·innen den letzten Rest von seinem einstmals freigeistigen Charme eingebüßt hat. Schade für alle Quereinsteiger·innen.

Jetzt also Meta gegen Apple: Krieg der Königreiche virtueller Welten. Als hätten wir nicht schon genug davon in der wirklichen Welt. Weltflüchtige, die wenigstens hin und wieder mal von all dem Elend abschalten wollen, sollten angesichts der Energiepreise eher davon absehen, auf ein sündhaft teures AR/VR-Headset à la Zuckerberg zu sparen, und eher darauf bauen, dass Karl Lauterbach jetzt tatsächlich mal mit seinem Gesetzesvorschlag für die Cannabis-Freigabe rüberkommt. Das erscheint deutlich kostengünstiger – und ist, wenn man sich mal eben aus der schnöden Realität wegbeamen will, frei von lästigen Werbeeinblendungen. Immerhin attestiert Lauterbach dem Gewächs, nach einem mutigen Selbstversuch im jugendlichen Alter, eine durchaus entspannende Wirkung. [um]

 

Um der Ausgewogenheit willen soll hier natürlich auch an eine unterhaltsame und rundum friedliche Spielart des Kreuzes erinnert werden: das Kreuzworträtsel. Allen historisch nachvollziehbaren Spekulationen zum Trotz wurde es nicht schon vor Tausenden von Jahren erfunden, sondern tatsächlich erst am 21. Dezember 1913, wie auf der Rätselwebseite Krupion berichtet wird.


 
 

Overmono


Um die Ecke gedacht
 

Ein nackter Mann liegt mit einem Streichholz in der Hand tot im Schnee, es gibt keine Fußspuren um ihn herum … Was ist geschehen? Die kleine Geschichte ist ein sogenanntes Lateral, ein Rätsel, das nur über kreatives Um-die-Ecke-Denken zu lösen ist. Das können Sie jetzt tun oder regel(ge)recht geradlinig weiterlesen. Dabei ist die Existenz von Regeln ja auch eine Voraussetzung des Querdenkens: Das gleichmäßige Raster gibt die Bahnen vor, auf denen sich das lineare Denken bewegt … und zwischen denen das laterale Denken frei schwingend hin- und herspringt auf dem Weg zu kreativen Lösungen – ohne jedoch Chaos zu erzeugen. Der Kreativitätsforscher Paolo Bianchi schreibt kreativen Menschen die Kompetenz zu, »den Balanceakt zwischen zwei gegensätzlichen Eigenschaften so zu meistern, dass es zu einer paradoxalen Verbindung kommt. Die Kreativität bezieht ihre Kraft aus der Spannung von jeweils zwei Momenten, die zwar einander ausschließen, jedoch wieder miteinander verbunden sind – ja, einander gerade voraussetzen.« Freiheit und Ordnung.

Der große Querdenker Albert Einstein hat angeblich jeden seiner großen physikalischen Gedanken aus einem Traumbild entwickelt, aber natürlich immer im Rahmen der naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Ein ganz anderer Bezug zu Regeln charakterisiert hingegen die Mitglieder der berüchtigten Querdenker-Bewegung: Das enge Reglement beginnender Coronazeiten hat einige von ihnen durch einen gefühlten Kontrollverlust so verängstigt, dass sie blindlings und unter Missachtung aller Fakten aus dem Raster ausgebrochen sind. Und dann sind da natürlich noch Verquerdenker, die uns zum nächsten lateralen Rätsel inspirieren könnten: Zwei Mädchen kleben an der Wand. Hinter ihnen ein Bild mit Sonnenblumen, von denen Tomatensuppe tropft. Was ist geschehen? [sib]

 

Das Lateral zum Einstieg ist trotz der vordergründigen Aktualität natürlich konstruiert. Der Mann befand sich mit mehreren anderen in einem Heißluftballon, der mangels Gas im Tank abzustürzen drohte. Um das Gewicht zu reduzieren, warfen alle ihre Kleider über Bord. Als das nichts half, losten sie mit Streichhölzern, wer abspringen muss. Das zweite – ein sehr reales Lateral – ist mit seiner deklamierten Fragestellung nach dem Vergleichswert von Kunst versus Leben nicht weniger konstruiert. Und damit wohl eher ein Ausdruck der Hilflosigkeit der Klimaaktivisten als ihres Anliegens.


 
 

Unexpected Dessert


Das Fundstück der Woche

 
 

Waschanlage meets Abendrobe – Liliane Lijn hat das bereits 1980 geschaffene, auf der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig ausgestellte Werk Heshe getauft. Zwischen Mann und Frau, Rückgrat, Eleganz und eingefrorener Bewegung entsteht Spannung – und Entspannung zugleich. Ein irritierender Tanz aus verchromten Stahl, synthetischen Fasern und optischen Glasprismen fordert auf zur Hinterfragung gängiger Bilder und Normen von Ihm und Ihr, sozusagen quer und queer zugleich. Und erinnern die Farben nicht irgendwie an das Outfit von Kim de l’Horizont bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises?


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Bilder: ©Dave Großmann
Fundstück: Liliane Lijn, Heshe. 1980. Foto: Boris Kochan, Venedig. 2022.


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