ei8ht days
a week – Streifzüge durch den Wandel
|
mit Boris Kochan und Freunden am 1. April
2022
|
|
Sehr
geehrte Damen und Herren,
»mit
Farben kann man Politik machen«, hat Otl Aicher während der Arbeit am
Erscheinungsbild der Olympischen Spiele 1972 mal gesagt – und im Rahmen der
Gründung der Schule für Gestaltung im Jahr 1953 in Ulm: »Grafik sollte zur
sozialen Kommunikation werden« und »Produktgestaltung die Humanisierung des
Alltags befördern.« Aicher ging es in seiner Arbeit wahrhaftig nicht nur um
Design-Dienstleistungen, sondern vor allem auch um Zivilisationsarbeit und
Kultur. In einem
auch heute noch sehr lesenswerten Bericht zu einer seiner Begegnungen
mit der – damals ostdeutschen – Schriftstellerin Christa Wolf im Jahr 1988
schreibt die Designerin und Verlegerin Andrea Schmidt unter dem schönen
Titel Ordnende Geflechte: »Aicher betonte, dass
Design sich zwar auf Sachverhalte beziehe, aber der Sprache verwandt sei.«
Die
beiden diskutierten die rasanten Veränderungen in der DDR, »beharrlich
bestand Aicher auf dem Begriff Revolution, um die
Volkserhebungen in diesen Monaten der DDR zu beschreiben.« Erst im Handeln wird Denken manifest war seine
Überzeugung. Einige seiner Fragen damals sind von besonderer Aktualität:
»Wie können wir in bestimmten politischen Verhältnissen menschengemäß leben? Wie können feststehende
Verhältnisse verändert werden? Wie kann das Bewusstsein nicht auf Einzelnes,
sondern auf eine ganzheitliche, menschliche Lebensform gelenkt werden?« Gute
Fragen, oder?
Herzlich Boris
Kochan
|
|
8daw-Doppelausgabe mit Doppelinterview zum Doppeljubiläum: Das war zu
verführerisch, um es sich entgehen zu lassen. Anlässlich von 50 Jahre Olympische Spiele München und 100 Jahre Otl Aicher in diesem Jahr haben wir
ausführliche Gespräche mit zwei Wegbegleitern Otl Aichers geführt: mit dem
Fotografen Karsten de Riese und dem Philosophen Wilhelm Vossenkuhl, die wir
hier gekürzt zu einem zusammengefügt haben. Diese 8daw-Ausgabe ist damit
deutlich umfangreicher geworden als sonst – zumal wir die Interviews noch
ergänzt haben um weitergehende Streifzüge, die mit den vertiefenden
Verlinkungen eigentlich schon wieder eine eigene Ausgabe wert wären. Ganz
herzlichen Dank an Karsten de Riese und die Bayerische Staatsbibliothek,
dass wir für diese 8daw-Ausgabe und einen in Kürze erscheinenden Sonderdruck
einige weniger bekannte Aufnahmen von Otl Aicher nutzen können. Übrigens:
Wer den Sonderdruck gerne demnächst physisch in den Händen halten möchte –
E-Mail an mich genügt!
|
|
Portrait aus Halbdistanz
|
|
Otl Aicher und die Olympischen Spiele 1972:
Ein Doppelinterview zum Doppeljubiläum
|
|
Er gilt als das knorrig widerborstige Genie unter den deutschen
Nachkriegsdesigner·innen: Otl Aicher, Mitgründer der Hochschule für Gestaltung
Ulm, Wegbereiter des Corporate Designs, dessen Hauptwerk, das Erscheinungsbild
der Münchner Olympiade 1972, in diesem Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag
feiert. Aicher selbst wäre am 13. Mai 2022 hundert Jahre alt geworden. Ein
Doppeljubiläum also und Anlass genug, zwei seiner Weggefährten aufzusuchen –
um sich Aicher und seinem Werk in Gesprächen mit dem Philosophen Wilhelm
Vossenkuhl und dem Fotografen Karsten de Riese anzunähern. Da sich die beiden
kennen und sich ihre Erzählungen so wunderbar ergänzten, haben wir uns
erlaubt, sie in diesem Artikel auch direkt miteinander ins Gespräch zu bringen.
|
|
Wir besuchten Karsten de Riese in seinem ländlichen Domizil
mit dem wunderbaren Blick übers Land, unweit von München. 1964 hat er als
junger Fotograf, der sich bereits beim SPIEGEL erste Sporen verdient hatte,
Aicher kennengelernt, als er sich an der Ulmer Hochschule bewarb. »Wir
hatten ein erstes, sehr intensives und persönliches Gespräch, das
ungefähr eine halbe Stunde gedauert hat«, erinnert sich de Riese. »Das war
keine Prüfungssituation, sondern da war ein großes Wohlwollen. Aicher hat
das auf eine Weise gemacht, bei der ich nicht in Angst oder Panik geriet,
sondern er hat mir geholfen, das bisschen, was ich mit gerade mal 22 Jahren
zu bieten hatte, auch einzubringen.«
»Er war ein Teamplayer« ergänzt Wilhelm
Vossenkuhl dieses Bild, das eine eher unbekannte, zugewandte Seite an Aicher
offenbart. »Er war immer auch Mentor, aber auf Augenhöhe mit den anderen.
Allerdings hat er auch so seine Eigenheiten gehabt. Zum Beispiel, dass am
Abend immer der Schreibtisch leer sein musste.« Vossenkuhl, der uns in
seiner Wohnung im Münchner Univiertel, dem kreativ-intellektuellen
Epizentrum der Stadt empfing, hat Aicher Anfang der achtziger Jahre
kennengelernt, als er an dessen Ausstellung über den Philosophen William von
Ockham mitgewirkt hat – ein Herzensprojekt des philosophisch durchdrungenen
Gestalters, mit dem bezeichnenden Untertitel: das Risiko, modern zu denken.
»Er hat unglaublich viel gelesen«, erzählt Vossenkuhl. »Und das schon als
Schüler. Von Nietzsche zurück bis Thomas von Aquin und Platon.«
Philosophische Erkenntnisse, die immer auch sehr konkret in seine Arbeit
eingeflossen sind und ein Kompass im Leben des Antinazis Aicher waren.
|
|
Fass, Waldi, fass! — Jenseits der
Designszene dürfte er bekannter sein als sein Schöpfer: Waldi, Urvater aller
olympischen Maskottchen, geschaffen nach dem Abbild einer Dackeldame, die Willi Daume
dem AIPS-Präsidenten, Félix Lévitan, schenkte. Die ersten grafischen
Entwürfe des ganz und gar unsportlichen grantigen Vierbeiners stammten aus dem
Kugelschreiber von Otl Aicher, bevor in ursprünglich wenig ambitionierter
Teamarbeit das hellblaue Unikum entstand. Hatte die Crew sich mit Begeisterung
auf den Gesamtentwurf für die Olympischen Spiele gestürzt, so hielt sich die
Lust auf die Kreation von Maskottchen in Grenzen. »Die sind nicht gerade das,
was man einen kulturellen Beitrag nennt«, erzählt Designer Rolf
Müller rückblickend im SPIEGEL-Interview.
Doch durch seine geradezu ikonografische Gestaltung
ist Waldi die absolute Ausnahme im Reigen alberner Figuren, die auch ein noch
so
komplizierter philosophischer Überbau nicht der Lächerlichkeit zu
entreißen vermag. Aichers strikte Designvorgaben sollten den Dackel absolut
kitschuntauglich machen und eher zum hochwertigen Kinderspielzeug, erinnert sich
Designerin
Elena Winschermann, die das Doping für den unvermeidlichen Souvenirmarkt
verantwortete. Wie verhasst muss es Aicher mit seiner Abneigung gegen alles
Werbliche gewesen sein, ein Objekt primär zum finanziellen Ausschlachten via
Lizenzhandel zu kreieren. Nicht auszuschließen, dass Waldi, als typischer Dackel
seinem Herrchen treu ergeben, die Verkaufszahlen einfach zerbissen hat – denn
die blieben weit hinter dem zurück, was seine Qualität als Sympathieträger hätte
erwarten lassen. Noch heute steht er im Online-Shop des IOC herum, der von einem der
reichsten Männer der USA verwaltet wird, und pinkelt möglicherweise allen
Geldschneidern inkl. einer Heerschar unsäglich
hässlicher Sportmaskottchen ans Bein … [sib] // Im Bild: Otl Aicher war
ein begeisterter Motorradfahrer – hier bei einer Testfahrt auf der
Olympia-Autobahn zwischen Wolfratshausen und Schäftlarn im speziell von André
Courrèges für Olympia 1972 entworfenen Anzug (nicht
Uniform!) für die Polizei.
|
|
»Gegen Hitler denken«, nennt
Vossenkuhl dieses Grundmotiv von Aichers Haltung, der nicht nur mit Hans und
Sophie Scholl befreundet, sondern auch mit deren Schwester Inge verheiratet war.
Eine Haltung, die auch seine Vision vom Erscheinungsbild der Münchner Olympiade
maßgeblich bestimmt hat, dessen Realisierung Karsten de Riese als Fotograf
intensiv begleitet hat: »Man muss sich vorstellen, dass es 1968, als die Spiele
nach München vergeben wurden, nicht wenige Sportfunktionäre gab, die schon 1936
dabei waren. Die fanden das damals ganz toll und wollten genau so etwas 1972
wieder haben – und dann kommt dieser Antinazi Aicher und spuckt denen in die
Suppe. Damit hatte er eine Gruppe von Unbelehrbaren, ewig Gestrigen am Hals, die
ständig versuchten, ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen.«
|
|
Von Piktogrammen und Strahlenkränzen –
»Piktogramme sind ein vorzügliches Beispiel für funktionierendes Design. Auf
das Wesentliche beschränkt, vermitteln diese Zeichen unabhängig von
Sprachbarrieren meist einen eindeutigen Sachverhalt.« So hat der berühmte
Schweizer Schriftgestalter Adrian
Frutiger das Wesen des Piktogramms in seinem Buch Der
Mensch und seine Zeichen bündig umrissen. Ob auch altägyptische
Hieroglyphen bei der Erfindung Pate gestanden haben, ist nicht ganz
unumstritten. Gesichert ist hingegen, dass in den 1920er Jahren der Rheinländer
Gerd Arntz die
ersten Piktogramme modernen Zuschnitts schuf, bevor der Japaner Katsumi
Masaru anlässlich der Olympiade 1964 in Tokio erstmals ein
Bildzeichensystem zur Kennzeichnung verschiedener Sportarten entwickelte. Das
war dann auch die Vorlage für Otl Aichers
Piktogramme für die Olympiade 1972. Aicher reduzierte die Symbole nochmals
radikal, ließ jegliche ornamental-figurativen Elemente weg und schuf so ein
System, das seither als das Maß aller Dinge gilt, wenn von Piktogrammen die Rede
ist.
Ein bisschen komplizierter verhielt es sich mit dem
Logo der Münchner Olympiade, jener Spirale, die natürlich auch an den Op-Art
Künstler Victor Vasarely denken lässt, dem das Städelmuseum den Entwurf
offenbar auch zuschreibt. Glaubt man hingegen der Münchner Olympiapark GmbH war
es Otl Aicher, der einen sehr reduzierten Entwurf in Form eines einigermaßen
abstrakten, symmetrischen Strahlenkranzes abgeliefert hatte, der allerdings bei
den Entscheidungsgewaltigen auf keine allzugroße Gegenliebe stieß, sodass sie
einen Wettbewerb ausschrieben. Von da aus führt die Spur wiederum ins Rheinland,
allerdings nicht zu Gerd Arntz, sondern zu dem Kommunikationsdesigner Coordt von
Mannstein, der Aichers Strahlenkranz einfach so lange verdrehte, bis die berühmte
Spirale dabei herauskam. [um] // Im Bild: Otl Aichers legendärer Auftritt
als Eishockeyspieler anlässlich eines
Sportsymposions 1975 in Rotis – der Türöffner links ist übrigens Willi
Daume.
|
|
Es war ein Bild von einem
modernen, weltaufgeschlossenen Deutschland, das Aicher bei den Spielen 1972
gegen alle Widerstände des IOCs vermitteln wollte. »Bei der visuellen
Kommunikation musste alles aus einem Guss sein«, beschreibt Vossenkuhl
Aichers damals bahnbrechendes Konzept. »Er hat den kompromisslosen Neuanfang
gesucht. Endlich einmal etwas machen, was nicht einfach deutsch, national
oder historisch war – und das ging bis hin zu den Anzügen der Polizisten,
die er von André Courrèges entwerfen ließ.« Schließlich bekamen sogar alle
städtischen Mitarbeiter·innen neue Bekleidung. Dabei war es Aicher besonders
wichtig, dass keine Hierarchien oder Ränge erkennbar waren – keine
Vorgesetzten, keine Untergebenen. »Das war natürlich auch der Geist der
68er«, erinnert sich de Riese. »Die Generation unserer Eltern hatte ja noch
die Spiele 1936 bejubelt. Das wollten wir nicht mehr, sondern wir wollten
etwas Neues schaffen. Aicher hat das personifiziert und das war an allen
Schreibtischen der Abteilung 11, in der wir saßen, spürbar: Aicher wollte
mit seiner Vorstellung von Design wirklich etwas verändern.« Wie tief
durchdrungen Aicher von der Idee eines anderen Deutschlands gewesen sein
muss, lässt eine Bemerkung Vossenkuhls über Aichers Jugend erahnen: »Man
muss sich nur vorstellen, dass er einer von drei Schülern in
Baden-Württemberg war, der nicht in die SS und die NSDAP eintrat und
deswegen kein Abitur machen konnte. Nach dem Krieg bekam er dann ein Abitur
geschenkt, damit er wenigstens noch studieren konnte.« Auch Aichers
Ablehnung aller strengen Raster, die bis hin zu seinem berühmt-umstrittenen
Schriftentwurf, der Rotis reichte, ist diesem widerständigen Geist
zuzuschreiben, der allem Lebendigen zugetan war, das sich jedem strengen
Reglement entzieht. Dabei war Aicher selbst keineswegs zurückhaltend, wenn
es ihm um die Durchsetzung seiner Ideen ging. Oder wie Vossenkuhl ironisch
meint: »Zwischen Otl und Aicher hat kein Blatt Papier gepasst.« Und so war
er auch bei dem Farbkonzept der Münchner Spiele unnachgiebig und schloss
alle Farben, die staatliche Macht repräsentieren könnten, radikal aus. »Es
gab kein Rot, kein Schwarz und kein Gold», erinnert sich de Riese, »und ein
klerikales Lila gab es auch nicht –, stattdessen gab es die Pastellfarben
der bayerischen Landschaft, die grünen Wiesen, das Blau des Himmels.« Und es
gab keine Werbung – zum letzten Mal bei Olympischen Spielen. Auch das hat
Aicher durchgesetzt und bei Wilhelm Vossenkuhls klingt zwischen den Zeilen
durch, dass Aicher dieses Werbeverbot durchaus robust betrieben hat:
»Werbung fand er schlimm. Damit wollte er auf Teufel komm raus nichts zu tun
haben. Also durften da auch keine Plakate zu sehen sein. Da war er
unglaublich kritisch.« Eine kritische Haltung, die offenbar auch dem
damaligen Bundeskanzler Willi Brand zugesagt hat, denn zu Karsten de Rieses
großer Überraschung tauchte der – und das auch mit Hans-Dietrich Genscher
und Walter Scheel im Gefolge – in der Abteilung IX auf, um sich über den
Stand der Arbeit am Erscheinungsbild ein persönliches Bild zu machen.
|
|
Sportpolitik – Die Olympiade 1972 war
hochpolitisch. Nicht nur wegen des entsetzlichen
Überfalls der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer
September auf das israelische Mannschaftsquartier, sondern auch,
weil es dem Gastgeberland Deutschland ein wichtiges Anliegen war, sich der
Weltöffentlichkeit als moderne, weltoffene Demokratie zu präsentieren.
Entsprechend groß war die Rolle, die das Erscheinungsbild der Olympiade spielen
sollte – Design goes Politics: »Die Welt glaubt uns
nicht, wenn wir sagen, dass dieses Land anders ist. Wir müssen es der Welt
zeigen«, sagte damals Otl Aicher über seinen Gestaltungsauftrag. Üblicherweise
wird die Idee, die Olympiade nach München zu holen, dem damaligen Präsidenten
des Nationalen Olympischen Komitees, Willi
Daume zugeschrieben. Der hatte schon Mitte der sechziger Jahre gemeinsam
mit dem damals in Berlin Regierenden Bürgermeister Willy Brandt den Gedanken
verfolgt, die geteilte Stadt wegen ihrer Symbolkraft als Austragungsort
vorzuschlagen. In einem Beitrag vom
Deutschlandfunk wird jedoch eine angebliche Erinnerung des Münchner
Oberbürgermeisters Hans Jochen
Vogel zitiert, derzufolge es Willy Brandts Idee war, die Spiele nach
München zu holen. Immerhin galt München spätestens seit 1964 als heimliche Hauptstadt Deutschlands, wie der SPIEGEL
seinerzeit titelte und in einem herrlich pointierten Artikel ausführte –
und München war ganz klar eine SPD-Stadt. Das würde auch erklären, warum diese
Olympiade für Brandts politische Agenda einen ganz besonderen Stellenwert gehabt
haben könnte – und er sogar Otl Aicher (in Begleitung seines Vizekanzlers und
damaligen Außenministers Walter Scheel) aufsuchte, um sich vor Ort über die
Arbeit an dem Erscheinungsbild der Spiele zu informieren.
|
|
»Das muss man sich mal vorstellen! Der Bundeskanzler kommt
vorbei und guckt auf die Schreibtische von den Gestaltern! Aber Brandt hatte
eben auch eine Vision, während der ihm nachfolgende Kanzler meinte, wer eine
Vision hat, muss zum Arzt gehen. Brandt war Sozialdemokrat reinsten Wassers
und sein Satz mehr Demokratie wagen hat genau den Geist
ausgedrückt, aus dem heraus wir unsere Arbeit in der Abteilung IX machten.«
Umso größer war gerade auch bei Aicher die
Erschütterung über das Attentat vom 5. September 1972, als das
palästinensische Terrorkommando Schwarzer September das
Wohnquartier der israelischen Olympia-Mannschaft stürmte und die Geiselnahme
in einer blutigen Katastrophe endete, bei der alle elf israelischen Geiseln
ermordet wurden. Auch ein Polizist wurde bei der gescheiterten
Befreiungsaktion eines völlig überforderten Polizeiapparats getötet und
ebenso fünf der Geiselnehmer. »Man wollte ein Fest machen«, sagt Vossenkuhl,
»ohne Gewalt, ohne Terror, ohne die Erinnerung an das deutsche Terrorregime
– und dann ist das passiert. Dann ist der Terror plötzlich dagewesen und
wieder ging es gegen die Juden. Das hat ihn unglaublich mitgenommen.« »Das
war eine solche Zerstörung unserer Ideale«, erinnert sich de Riese. »Ich war
selbst so zerstört und sprachlos, dass ich damals nicht mit ihm darüber
reden konnte. Dabei hätte er vielleicht jemanden zum Sprechen gebraucht.«
Aicher selbst war nach dem Attentat zutiefst verbittert. Ein Wesenszug, der
auch die Erinnerung an ihn überschattet. »Er konnte unglaublich in Rage
geraten«, erinnert sich Karsten de Riese. »Und das auch Kunden gegenüber.
Das war schockierend und faszinierend zugleich. Ich hatte das noch nie
erlebt, dass jemand seinen Kunden derart an die Leine legt und dann noch
draufhaut. Das wurde dann selbst mir zu viel.« »Er war natürlich gnadenlos«,
meint auch Vossenkuhl, »aber er war einfach auch ein genialer Kerl, der das
Selbstbewusstsein hatte, zu Kunden zu gehen und ihnen zu sagen, worum es
eigentlich geht und wie etwas gemacht werden muss. Das kann man nicht
nachahmen. Das kann man auch nicht lernen. Und er hatte die Gabe, Menschen
zu entdecken und ihre Begabung zu entwickeln – das sind die großen Leute,
die das können.«
|
|
Eine Frage der Haltung — Ein radikaler
Verfechter der Kleinschreibung ist er. In der Groß- und Kleinschreibung sieht
Otl Aicher den typografischen Ausdruck von Herrschaft und Unterdrückung.
Konsequent entwickelt er seine Schriftfamilie Rotis zunächst nur in
Kleinbuchstaben. Die Rotis soll »den typografischen Kriegszustand zwischen Antiqua- und
Groteskschriften beenden«, so Aicher. Diesen Graben schließt die nach dem
Wohnort Aichers benannte Schrift mit einem Serifenschnitt, einer Serifenlosen
und zwei Übergangsformen (Semi Serif und Semi Sans). Gleichzeitig spaltet die Rotis die
Typoszene. Die einen bemängeln ihre Lesbarkeit, die später zugefügten
Großbuchstaben, störende Einzelformen, etwa das markante »e«, den unruhigen
Schriftfluss. Erik
Spiekermann schimpft die Rotis eine »Kopfgeburt«. Leidenschaftliche Fans
halten laut dagegen. Städte wie Seattle, Montreal oder Portland nutzen die Rotis
als Hausschrift. Verkehrsschilder in Auckland, Neuseeland oder Singapur sind aus
ihr gesetzt. Höchst unterschiedliche Unternehmen, etwa Bulthaupt, Merck,
Scandinavian Airlines oder die Johanniter kommunizieren oder kommunizierten in
der Rotis. Vielleicht liegt ja in der homöopatischen Eigenwilligkeit der Schrift
aus dem Allgäu ein Grund für ihren Erfolg. [gw] // Im Bild: Otl Aicher mit
olympisch-fröhlichen Papierblumen.
|
|
Das Erscheinungsbild der Olympischen Spiele 1972 in
München darf mit Fug und Recht als Aichers Hauptwerk bezeichnet werden. Umso
mehr verwundert es, dass es ausgerechnet im Jahr des 50. Jubiläums der Spiele
noch immer so still darum ist. Mag sein, dass das den tragischen Ereignissen von
damals geschuldet ist. Mag aber auch sein, dass sich dabei ein tiefer liegendes
Problem Münchens Geltung verschafft, wie Wilhelm Vossenkuhl vermutet. Anstelle
eines Schlussworts: »Ich habe nicht das Gefühl, dass München eine Tradition hat,
mit den eigenen Werten positiv umzugehen. Dabei gibt es hier eine Menge guter
Sachen, aber die Stadt ist nicht stolz darauf und so gibt es auch keine
Tradition, so ein wichtiges Ereignis wie 1972 zu würdigen – und zwar mit allem
Licht und Schatten. Sollte München aber nicht in der Lage sein, diese Dimension
zu erkennen, dann haben wir große Schwierigkeiten, diese Dimension überhaupt zu
erkennen.«
|
|
Die
Gespräche führten Ulrich Müller und Boris Kochan.
|
|
Der 1942 in Eisenach
geborene
Karsten de Riese
studierte in München Fotografie und hatte
bereits für den SPIEGEL gearbeitet, als Otl Aicher ihn an die
Hochschule für Gestaltung in Ulm im Bereich Visuelle Kommunikation aufnahm. Er war unter
anderem für die verschiedensten Zeitungen und Magazine tätig und so
entstand in mehr als 50 Jahren ein einzigartiges Oeuvre, welches das
Erscheinungsbild Deutschlands seit den 1970er Jahren dokumentiert.
Neben Langzeitreportagen wie zur innerdeutschen Grenze oder zum
Deutschen Bundestag und seinen Porträts bedeutender Persönlichkeiten
des öffentlichen Lebens hat ihn auch seine fotografische
Leidenschaft für die Neue Musik bekannt gemacht und ebenso seine
zahlreichen Industriereportagen, die einzigartige Zeugnisse der
deutschen Industriekultur sind. Karsten
de Riese arbeitet nie im Studio. Er bewegt sich mit seiner
Kamera stets unter Menschen und dokumentiert Alltagssituationen, in
denen sein untrügliches Auge unter die Oberfläche vermeintlich
profaner Situationen dringt und so neue Bedeutungsebenen enthüllt.
Von 1970 bis 1972 war er offizieller Fotograf für das
Organisationskomitee der Olympischen Sommerspiele 1972 in
München. Wie kein anderer hat er die Entstehung und das
Erscheinungsbild des Olympiageländes und seiner Bauten fotografisch
festgehalten. Eine Auswahl dieser Aufnahmen zeigt die Bayerische
Staatsbibliothek,
die das gesamte Archiv mit rund 390.000 Aufnahmen erworben
hat, vom 11. Mai bis 4. September 2022 in
einer Ausstellung Olympia 1972 in Bildern.
|
|
Der 1945 in Engen
geborene
Wilhelm Vossenkuhl
studierte in München
Philosophie, Neuere Geschichte und
Politikwissenschaft, wo er 1972 promovierte und 1980 auch
habilitierte. 1986 wurde er an die Universität Bayreuth als Professor für Philosophie berufen. Von dort aus
führte ihn sein Weg zurück nach München, wo er von 1993 bis 2011 an
der Ludwig-Maximilians-Universität München als Lehrstuhlinhaber für
Philosophie I lehrte. Neben seinen
akademischen Arbeiten zu Wilhelm von Ockham und Ludwig Wittgenstein
hat er sich als Autor und Herausgeber gerade auch
populärwissenschaftlicher Werke wie Philosophie
für die Westentasche hervorgetan. Einem breiten Publikum
wurde er durch seine Zusammenarbeit mit dem Astrophysiker Harald
Lesch in einer Reihe von Fernsehsendungen für BR-alpha bekannt, in
denen die beiden anspruchsvolle philosophische Fragestellungen im
Plauderton anschaulich vermittelten, wie etwa in
Denker des Abendlandes. Geradezu
legendär sind auch
die Sendungen aus einem Münchner Café unter dem Titel Lesch &
Co zu Materie und Geist. Mit Otl
Aicher hat
Wilhelm Vossenkuhl schon seit den 80er Jahren verschiedentlich
zusammengearbeitet. Zunächst bei einer
Ausstellung Aichers zu Ockham sowie im Rahmen eines über
viele Jahre laufenden Diskures zu den philosophischen Grundlagen des
Designs. Dabei sind seine beiden Beiträge zu Otl Aichers Büchern
analog und digital und
schreiben und widersprechen. zu kultur und
design – berichte aus der autonomen republik besonders
lesenswert.
|
|
|
|
In der 8daw-Ausgabe
BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir
uns unter anderem mit dem Thema
geschlechterspezifische Schreibweise
beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung
eines Lesers für uns am geeignetsten:
»Der Mittelpunkt (MacOS: Shift+Alt+9;
Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der
Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger
den Lesefluss der Leser·innen, weil er
nicht nach Fußnoten ruft und auch keine
Textlücken reißt wie der Gender_Gap.
Im Hinblick auf Lesbarkeit und
Typografiequalität also eine bessere
Alternative, und inhaltlich – als
Multiplikationszeichen verstanden – treffend.
Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch
frei, ob sie den Mittelpunkt oder
eine andere Form benutzen.
Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind
jedenfalls geschlechtsneutral
zu verstehen.
|
|
|
8daw ist der wöchentliche
Newsletter von Boris Kochan und Freunden zu Themen
rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und
Politik, Unternehmen und Organisationen.
Er erscheint in Verbindung mit
Kochan & Partner und setzt so die langjährige
Tradition der Netzwerkpflege mit außergewöhnlichen
Aussendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich
als Community- und Kollaborations-Projekt
insbesondere mit seinen Leser·innen –
Kooperationspartner sind darüber hinaus zum
Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH
Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG
Berufsverband der Deutschen Kommunikationsdesigner
und die Typographische Gesellschaft München (tgm).
|
|
Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie
verantwortlich im Sinne des Presserechts
ist Boris Kochan [bk],
Hirschgartenallee 25, 80639 München,
zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com
oder +49 89 178 60-900
() in Verbindung
mit Kochan & Partner
GmbH, Hirschgartenallee 25,
80639 München, news@kochan.de
Redaktion: Ulrich Müller [um]
und Gabriele Werner [gw];
Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib];
Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg],
Sandra Hachmann [sh],
Herbert Lechner [hel], Martin Summ [mas];
Illustrationen: Martina Wember [mwe];
Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk]
mit Unterstützung der Bildredaktion von
Kochan & Partner;
Homepage: Pavlo Kochan [pk];
Design/Technik: Michael Bundscherer [mib];
Schriften: Tablet Gothic
von Veronika Burian und
José Scaglione sowie Coranto 2
von Gerard Unger über TypeTogether;
Versand über Clever Reach.
Bildnachweis: Fotografiert
von Karsten de Riese — ©Bayerische Staatsbibliothek
München
· Fundstück ©Wolfgang Eckert
|
|
|
|
|
|
|
|