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ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 20. Januar 2023

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

schreiben wie Greta Thunberg – zumindest so, wie auf ihrem berühmten Plakat, mit dem sie seinerzeit vor dem Schwedischen Parlament aufgetaucht ist und nebenbei die Fridays-for-Future-Bewegung losgetreten hat: Der New Yorker Designer Tal Shub hat aus den leicht krakeligen Buchstaben dieses Plakats eine Schrift gestaltet, die den etwas befremdlichen Namen Greta Grotesk trägt. Das ist natürlich erstmal eine sehr nett gemeinte Würdigung, aber können Sie sich ernsthaft vorstellen, wie Luisa Neubauer in Lützerath ein säuberlich mit Thunbergs Schrift ausgedrucktes Plakat in die Kameras hält, auf dem dann ausgerechnet der Slogan der Bewegung: Klimaschutz ist Handarbeit steht? Ich fände das doch einigermaßen paradoxal, weshalb sich mir der Gebrauchswert dieser Schrift auch nicht so recht erschließen mag. Und wieso überhaupt Handarbeit?

 Wer jetzt – wie die taz – nahe legt, das würde vor allem damit zu tun haben, dass die Letzte Generation sich gerne mal mit den Händen auf Straßen oder Flugzeuglandebahnen festklebt, springt zu kurz. Auch ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass alle Klima-Aktivist·innen Richard Sennetts Buch Handwerk gelesen haben – jene Hommage an dieses hochsensible, weltbe-greifende Glied, von dem nicht wenige KI-Forscher·innen glauben, dass es ein Schlüssel zum Verständnis von Intelligenz sei. Wesentlich verbreiteter als die Lektüre von Sennett dürfte unter den Aktivist·innen ein Buch von Daniel Hunter sein, das Klimaschutz ist Handarbeit im Titel trägt und zu dem Thunberg das Vorwort beigesteuert hat. Was erstmal wie ein harmloses Jugendbuch daherkommt, ist tatsächlich eine ausgefuchste Anleitung zu klimakritischen und vor allem direkten Aktionen, zu Demonstration und Boykott also. Handarbeit bedeutet hier: machen, also auch Hand anlegen und das selbstverständlich bis hin zur Gestaltung des eigenen, handgeschriebenen, mithin höchst persönlichen Demo-Plakats. Kurz: Ich schreibe, also bin ich. Die Greta Grotesk passt da irgendwie nicht so ganz hinein. Zu Richard Sennetts Buch hingegen lässt sich der Bogen trefflich spannen, wenn er darin eine vielfach kolportierte Bemerkung zitiert, die Immanuel Kant zugeschrieben wird: »Die Hand ist das Fenster zum Geist«.

Ich wünsche Ihnen zum Wochenende – und natürlich darüber hinaus – die bestmögliche Balance von Körper und Geist.

Herzlich
Ulrich Müller

 
Drei Ausgaben lang hat er sich eine verdiente Auszeit gegönnt, jetzt ist er wieder im Lande: Unser geschätzter Freund und Kollege Boris Kochan, der sich peu à peu wieder an das harte Los des Chefredakteurs gewöhnt. Frei nach Karl Marx (und das mit höchst kollegialer Selbstironie), dessen Tür zum Chefredakteursbüro bei der Neuen Rheinischen Zeitung das Schild zierte: »An dieser Tür endet die Demokratie«. Ob es handgeschrieben war, ist leider nicht überliefert.
 

Die Bilder dieser 8daw-Ausgabe zeigen banale Alltagsbegriffe in einer irritierenden Handschrift – diese Kombination führt zu einer eigentümlichen Doppeldeutigkeit: Gosbert Gottmann hat die Handschriften von betagten Senioren gesammelt, übereinandergelegt, zu neuen Buchstaben verdichtet und so eine Alte Schrift entwickelt. Auf die Idee ist der leidenschaftliche Fotograf und Leiter einer von ihm gegründeten Pflegeeinrichtung gekommen, als er beobachtete, dass die Handschriften alter Menschen immer ähnlicher werden. »Die meisten der Schreiber sind 80, 90 Jahre alt, das heißt, sie gingen zur Schule, als noch massiv gedrillt wurde und eine ordentliche Schrift Pflicht gewesen ist. Die meisten hat diese, ihre ganz persönliche Schrift, ihr Leben lang begleitet, war Teil der Person, der Identität. Sie spüren den Verlust.« Für Gottmann sind diese Schriften das Gegenbild zu einem lauten, medienüberfüllten Konsumuniversum, in dem für die meisten die schnelle Sensation mehr zählt als vertiefendes Nachdenken. Mit aus dieser überdrehten Welt übernommenen Wörtern wie Reality TV und Topmodell hat er einfache Schrifttafeln gestaltet – die unter anderem in der ersten von nur zwei Ausgaben des Magazins für alphabete Kultur, ESCEHAERIEFTE, vorgestellt wurden. Wer gerne noch ein Exemplar des von der Typographischen Gesellschaft München (tgm) im Rahmen eines Workshops herausgegebenen Magazins haben möchte – E-Mail an boris.kochan@eightdaw.com genügt.


 

Unpassend begabt
 

Mit der Hand schreiben zu lernen, fordert. Insbesondere das Gehirn. Da sind die Verbindungen zwischen dem visuellen und unserem Sprachsystem auszubauen. Einzelne, erst einmal bedeutungsfreie Buchstaben müssen zu Worten verknüpft und mit Inhalt gefüllt werden. Es braucht die Fähigkeit, Formen zu erkennen, zu unterscheiden und Lauten zuzuordnen. Und eine ausgeprägte Auge-Hand-Koordination. Die Grob- und Feinmechanik muss ausgebildet werden, bis das Zusammenspiel zwischen den Nervenzellen im Gehirn, im Rückenmark und den Muskeln perfekt klappt. Der Weg zum individuellen Ausdruck der Persönlichkeit via Handschrift klingt mühsam. Dabei wird er meist sehr geradlinig gelehrt, logisch, klaren Regeln folgend. Diese sogenannte verbale Denkweise entwickelt der größte Teil der Menschheit. Eine andere Denkweise wäre das nonverbale Denken, das Denken in Bildern. Diese Art zu denken ist evolutionär, erheblich schneller und vielschichtiger als das verbale Denken.

Solche Begabung läuft gewöhnlich unter dem Namen Teilleistungsstörung oder Legasthenie. Buchstaben werden dann zum Beispiel räumlich gesehen. Sie können tanzen, sie bewegen sich. Dann wird aus einem p schnell ein q, b oder d. Das Wort rot sieht aus wie tor. Oder doch ort? Ein Wort, das sich nicht mit einem Bild verknüpfen lässt, etwa das oder es, gerät schnell zur Stolperfalle, die Legastheniker·innen die Orientierung nimmt. Sie, diese Tagträumer·innen mit weitem Blick, passen nicht in unser Schulsystem, sie sind normwidrig, unbequem. »Es ist normal, verschieden zu sein«, sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 1. Juli 1993 bei einer Rede. Das ist jetzt auch schon knapp 30 Jahre her. [gw]

 

Einen (nicht unumstrittenen) Gegenentwurf zum wenig effektiven Üben, Üben bei Legasthenie liefert der Autist und Analphabet Ronald D. Davis. Schon als Kind wurde ihm eine geistige Behinderung bescheinigt. Ein späterer IQ-Test ergibt allerdings einen Wert von 137. Obwohl er Analphabet bleibt, entwickelt sich Davis zum erfolgreichen Ingenieur und Geschäftsmann. Später lebte er als Hippie, Makler und Bildhauer. Mit 38 Jahren gelingt es ihm, die Besonderheiten seiner Wahrnehmung zu verstehen. Aus der eigenen Erfahrung entwickelt er die Davis-Methode zur Korrektur von Legasthenie, die die Ansichten über Legasthenie auf der ganzen Welt verändert hat. Sein Schlüsselwerk heißt Legasthenie als Talentsignal.


 

Charakter mit Sauklaue
 

Eigentlich sollte diese Ausgabe handschriftlich verfasst sein. Dann hätten wir Schreibende uns – wahrscheinlich – endlich einmal kurz gefasst. Und wir hätten gleich ein paar Experimente zur Schriftpsychologie machen können – etwa beobachten, ob sich die Beschaffenheit unseres Schreibwerkzeugs mehr auf das Schriftbild auswirkt … als unsere Stimmungslage. Oder wir hätten Sie als Lesende fragen können, ob es Ihnen anhand des Duktus möglich ist, Autor bzw. Autorin zu identifizieren? Das wäre natürlich reine Spielerei gewesen – doch gilt auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Handschrift zur Persönlichkeitsanalyse, die Graphologie, vielen Experten als fadenscheinig. Während andere sie als probates Mittel im Assessmentprozess oder in der Partnerschaftsberatung erachten. Der Psychologe und geistige Wegbereiter des Faschismus Ludwig Klages hat in seinem Werk Handschrift und Charakter untersucht, wie die inneren Kräfte des Menschen an der Formgebung der Buchstaben zerren und umfangreiche Deutungstabellen erstellt. Demnach würden Bewegungs-, Form- und Raumbild Aufschluss geben über die Persönlichkeit des Schreibenden.

Kritiker setzen dem entgegen, dass die Handschrift von vielen weiteren Faktoren, eben Schreibmaterial, Handmuskulatur etc. abhängig sei und die Graphologie wissenschaftlichen Anforderungen nicht genüge. Vielmehr komme sie nur dem Bedürfnis des Menschen entgegen, andere mit einfachen Mitteln durchschaubar zu machen: Den Schlamper durch seine Unterschrift unter dem Bewerbungsschreiben oder den Massenmörder am zielgenau gesetzten i-Punkt. Dabei spielt die Schriftanalyse in der Kriminalistik tatsächlich eine Rolle, aber ganz anderer Natur, nämlich im Rahmen des Schriftenvergleichs. Forensische Schriftgutachter sind gefragt, wenn es darum geht, auf erfahrungswissenschaftlicher Basis Unterschriftsfälschungen zu erkennen oder Absender anonymer Botschaften zu identifizieren. Die Häufigkeit, in der handschriftliche Erpresserbriefe untersucht werden müssen, soll im Zeitalter der Digitalität aber deutlich abgenommen haben.

Wobei übrigens gerade die Digitalisierung mit ihrem Trend zu immer kleineren Devices die fast schon totgesagte Kulturtechnik des Handschreibens wiederbelebt: Ist doch das Krakeln mit dem Fingernagel auf dem Touchscreen oft die einzige Möglichkeit, dem DHL- oder anderen Kurierfahrern, den Empfang zu bestätigen … Auf die Charakterdeutung eines Graphologen möchte man da aber gern verzichten! [sib]

 

Die Handschrift eines Menschen verändert sich im Laufe des Lebens, etwa unter dem Einfluss gesundheitlicher Faktoren wie – oft altersbedingter – feinmotorischer Störungen. Auch ein schreibintensiver Beruf spielt eine Rolle, denn dabei vereinfacht sich das Schriftbild. Typisch dafür ist die sprichwörtliche Arztschrift oder Ärzteklaue, die nach Berechnungen der National Academy of Sciences alleine in den USA jährlich 7.000 Menschen das Leben kostet. Der Grund: unleserliche Rezepte. Abhilfe findet sich hier …


 

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Veranstaltungen, Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion
 
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TypeTogether

Schreibend begreifen lernen
Forschungsprojekt zur Ausgangsschrift in Ländern mit lateinischem Alphabet


Das deutsche Wort begreifen beschreibt die Hand als Werkzeug des Lernens und des Verstandes. Und steht damit ganz wunderbar auch für den großen Moment, wenn Kinder nach der Abstraktion der Benennung dann die zweite Abstraktion kennenlernen: Aus dem gesprochenen Wort wird ein geschriebenes. Leider tobt seit vielen Jahren – nicht nur in Deutschland – eine heftige Auseinandersetzung darüber, wie Kinder richtig schreiben lernen. Die Type Foundry TypeTogether hat ein Forschungsprojekt initiiert, in dem sie die Ausgangsschriften untersuchen, die in über 40 Ländern mit lateinischem Alphabet heute und in der Vergangenheit zum Einsatz kommen. Erste Ergebnisse sind in diesem Blogbeitrag zusammengestellt.


 

Das Fundstück der Woche

 
 

Minimalistisch und opulent zugleich, poetisch, anmutig, ernsthaft – der Film The Color of Pomegranate des armenisch-russischen Regisseurs Sergej Parajanov ist ein exotisches Fest für die Sinne, der mit einer fast atemberaubenden Bescheidenheit der Mittel schon 1968 gedreht wurde. In ihm wird mit wenigen Dialogen und vielen Tableaus das Leben des armenischen Dichters und Troubadours Aschug Sayat-Nova (König des Liedes) aus dem 18. Jahrhundert nachvollzogen: Sayat Novas Gedichte sind eher zu sehen als zu hören. Klagende Volksmelodien wechseln sich mit Chorgesängen ab, die Bildsprache folgt den Gedichten des Protagonisten: Engel mit flachen Heiligenscheinen und Holzflügeln, eine Wolke aus Pappe, die als Vision herabsteigt, die ständige Wiederholung wichtiger Requisiten wie Bücher, Silberkugeln und verzierte Teppiche. Früchte scheinen zu bluten und Bücher zu weinen. Tiere, insbesondere Ziegen und Schafe, sind allgegenwärtig. Unbewegte Schauspieler führen tänzerische Gesten aus, während sie direkt in die Kamera starren. Kurz: Ein revolutionärer Meilenstein der Filmgeschichte, der das Überleben der armenischen Kultur angesichts von Unterdrückung und Verfolgung feiert!


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Steinerstraße 15c, 81369 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 ( facebook facebook facebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Steinerstraße 15c, 81369 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Mailjet.

Bildnachweis:
Bilder aus ESCEHARIEFTE Magazin — ©Typographische Gesellschaft München e.V.
Kalenderbild Ausschnitt aus The Ladybird Book of Handwriting. Gourdie, Tom, 1968 — ©Internet Archive


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