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ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 9. April 2020

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ostern ohne Spaziergang kann ich mir nur schwer vorstellen. Auch wenn sich meine Intention bei dieser Art der feiertäglichen Fortbewegung stark geändert hat: Meine erste Begegnung mit den Ende der 1970er-Jahre wieder aufgenommenen Ostermärschen war ein Akt des Widerstands.

»Wir sperren Bayern nicht ein« hatte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder vor mittlerweile drei Wochen verkündet und dennoch die bürgerlichen Freiheiten stark eingeschränkt: Die eigene Wohnung zu verlassen ist nur noch aus triftigem Grund erlaubt. So sehr die »allermeisten von uns verstehen, dass es notwendig ist, etwas gegen das Virus zu unternehmen«, meint dazu die Verfassungsrichterin Juli Zeh in einem nachdenklichen SZ-Interview, erscheint jedoch vieles von dem, was passiert, »unlogisch, überstürzt, undemokratisch. Dagegen würde man gern aufbegehren. Aber dann wird einem gesagt, dass man sich schuldig macht an möglichen Opfern, wenn man nicht mitspielt. Das ist ein unnötiges Dilemma, das die Menschen quält: ein künstlich entfachter Antagonismus zwischen Menschenrechten und Menschenleben. Wenn man nicht mit Bestrafungsszenarien gearbeitet hätte, sondern lieber darauf gesetzt hätte, durch eine verständliche und nachvollziehbare Strategie Einsicht zu erreichen, hätte man ein viel höheres und wirklich empfundenes Einverständnis der Bürger ermöglicht.«

Und es so vielleicht auch befördert, dass beim österlichen Laufen Das Glück des Gehens entsteht: »Kaum etwas bringt uns so schnell auf andere Gedanken« wie ein Spaziergang, schreibt Shane O‘Mara. »Das Gehen ist eine der simpelsten, alltäglichsten und zugleich zufriedenstellendsten Tätigkeiten, von der unsere Gesundheit, unsere Resilienz, unsere Kreativität und unsere Stimmung erheblich profitieren.« Oder sollte etwa genau das verhindert werden? Ich jedenfalls werde ihn aus triftigstem Grund unternehmen: meinen kleinen Marsch durchs unwegsame emotionale Gelände …

Ich wünsche ein wohl bewegtes Osterwochenende
Boris Kochan

 

Vor ein paar Tagen – am 25. März – ist Kochan & Partner 39 Jahre alt geworden. Damals entstanden aus einer sehr politisch dominierten Arbeit an der Schülerzeitung, die nicht nur eine große Nähe zum ökologischen Teil der Startbahn-West-Gegner und ihren Sonntagsspaziergängen am Frankfurter Flughafen hatte, sondern auch in ihrer letzten von mir mitverantworteten Ausgabe forderte: »… Schulen entsprechen zweckentfremdetem Raum. Ein lohnendes Objekt für Instandbesetzer. In einer Zeit, in der Pazifisten die neuen Staatsfeinde sind, müssen wir beginnen zu arbeiten«, schrieb der damals junge Sprecher der Redaktion in seinem Editorial für die Ausgabe Nr. 3 1980/81 Die Wahrheit liegt im Pflasterstein – Die Jugend und ihr Krawall: »Für uns wird niemand kämpfen. Deswegen: kein Ticket nach Übersee. Sondern hierbleiben. Brüllen. Widerstehen.«


Schleichwege
 

Das Gebot der Stunde heißt Fortbewegung ohne Flugphase. So erklärt die Wissenschaft ganz Klima-wertneutral ausgerechnet: das Gehen. Wer dabei bräsige Bodenhaftung assoziiert, sei daran erinnert, wie Legionen von Schriftstellern und Philosophen das Gehen gepriesen haben. »Keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist«, forderte Friedrich Nietzsche und Thomas Bernhard hat dem »Gehen« auf schwankendem Grund alltäglichen Irrsinns ein ganzes Buch gewidmet. In jüngerer Zeit hat sich sogar die Kulturwissenschaft dieses Themas angenommen: »Kulturelle Anatomien: Gehen« heißt eine Textsammlung, die sich um Selbstverortung und Welterfahrung dreht – irgendwo zwischen Schlendern, Wandern und Flanieren.

Flannerie klingt indes verdächtig nach Müßiggang und der wiederum zeigt wenig Neigung zur Systemrelevanz. Im Gegenteil: Seine Ächtung als aller Laster Anfang machte Soziologen zufolge unsere Leistungsgesellschaft überhaupt erst möglich. Wenn es jetzt also heißt: Spazierengehen erlaubt!, sollte jedem, der dabei nicht an seine Arbeit denkt, klar sein, dass er sich damit auf potenziell subversives Terrain begibt. Man stelle sich nur all die Menschen vor, die sich plötzlich treiben lassen, womöglich einen neuen Blick auf sich selbst und Sinn und Unsinn des Lebens gewinnen – oder noch schlimmer, überhaupt nicht mehr daran denken, sondern sich einfach dem Hier und Jetzt überlassen.

Niemand hat das so schön beschrieben wie der französische Anthropologe David Le Breton: »Als Vergnügen an der Zeit und an den Orten ist das Gehen ein Ausweichmanöver, das der Modernität ein Schnippchen schlägt. Es ist ein Schleichweg im rastlosen Rhythmus unseres Lebens.«  [um]

Das »Lob des Gehens« von David Le Breton ist 2019 im Matthes & Seitz Verlag erschienen. Ein Lesegenuss für Flaneure und solche, die es werden wollen.


Früh am Morgen, als eben die Sonne aufging
 

Endlich Hasenzeit! Landauf, landab hoppelt und raschelt und klingelt es wieder – der Haken schlagende Eierlieferant ist unterwegs. Schon in der Antike gilt der Lepus europaeus, der Feldhase (Hasi) als Symbol der Fruchtbarkeit, Lebenskraft und Sinnenfreude. Der Liebesgöttin Aphrodite wird er ebenso zur Seite gestellt wie der Gottesmutter Maria. Wie ausgerechnet der Hase zur heiligen Jungfrau kommt? Es gab da mal die Vorstellung, Häsinnen würden sich selbst befruchten, also unbefleckt empfangen, was natürlich Quatsch ist. Vielmehr können Häsinnen sogar doppelt schwanger zu werden – auch von verschiedenen Rammlern (sorry). Superfötation nennt sich dieses Phänomen.

Ostara heißt eine keltische Mond- und Fruchtbarkeitsgöttin, die in Begleitung eines Hasen gezeigt wird. Sie bringt die Morgenröte, die Sonne, das Licht, Leben und Wachstum. Ob ihr Name mit unserem Osterfest in Zusammenhang steht, ist nicht zweifelsfrei erwiesen. Sicher aber ist, dass sich Ostern nach dem Mondstand richtet: Das Fest findet am ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond statt. Wer an diesem Tag, sehr früh am Morgen, über die taufeuchten Wiesen streift, der hört vielleicht …? Auf den Boden der Tatsachen landet man dann flugs wieder mit Dagmar Wagners Dokumentarfilm »Das Ei ist eine geschissene Gottesgabe«. [gw]


 

Hut & Hase: Auf die Frage, ob er ein Humanist sei, hat Joseph Beuys einmal geantwortet, er sei lieber ein Hase. Für ihn ist der Hase ein Statthalter für eine bessere Welt, ein Außenorgan des Menschen, ein Animateur der Transformation. Gestaltungskraft, Auferstehung, Ostern: Aus der Erdkuhle, in der der Hase im Winter verharrt, springt er im Frühling wieder hervor. Ein Kinderlied erzählt davon: »Armes Häschen bist Du krank, dass Du nicht mehr hüpfen kannst. Häschen hüpf!« Seine Aktion »Wie man einem toten Hasen die Bilder erklärt« fand im November 1965 in der Galerie Schmela in Düsseldorf statt.


Wenn das Häschen mit dem Kohl …
 

Es stimmt, der Name Gründonnerstag hat ethymologisch betrachtet nichts mit der Farbe zu tun, sondern mit „greinen“. Läuft aber essenstechnisch auf dasselbe hinaus, nämlich auf das Gebot, an diesem Tag nur Grünzeug zu verzehren: Kohl, Spinat, Salat – zum Weinen! Immerhin die vorletzte Etappe der Fastenzeit, die auch kein Zuckerschlecken war. Und schließlich warten schon die Häschen oder Lämmchen, bis sie geschlachtet werden – die in Staniol und Zellophan. Von denen, die am Ostersonntag in den Töpfen schmoren, schweigen wir lieber, aus Rücksicht auf die Vegetarier unter uns. Und im Hinblick auf das Paradoxon, dass ausgerechnet das Tier, das als Symbol des Erlösers gilt, mit Rosmarin gespickt auf dem Bratrost geopfert wird. 

Dabei haben gerade Essensrituale, die zu fast jeder Religion gehören, einen rationalen Hintergrund – etwa das Verbot von Schweinefleisch zum Schutz vor parasitären Erkrankungen. Andererseits wirkt es identitätsstiftend, wenn sich der gemeinsame Glaube im Speiseplan manifestiert. Umgekehrt taugen die Regeln den Ernährungs-Protestanten wunderbar zur Abgrenzung. Beides macht vermutlich den modernen Trend zur gelebten Ernährungsphilosophie so reizvoll: lowcarb, vegan, lactose- oder glutenfrei. Erstaunlich eigentlich, wie viele Menschen sich dem freiwilligen Verzicht unterwerfen, die sich vorher vehement der Gängelung durch religiöse Riten widersetzt haben, denen aber ihre strikten Free-From-Regeln plötzlich heilig sind. Aber schließlich sollte jeder auf sein Bauchgefühl hören. Also: Auf die Kohlsuppe! [sib]

Apropos Kohl: Die These vom identitätsstiftenden Essen erhärtet sich spätestens dann, wenn eine Pfälzerin in Bayern von einem in München lebenden Berliner lesen muss, Altbundeskanzler Kohl habe seine Staatsgäste rituell »mit Pfälzer Saumagen traktiert«. Und zur leidenschaftlichen Verteidigung des regionaltypischen Gerichts anhebt – ohne es selbst jemals verzehrt zu haben. Vielleicht wäre jetzt an Gründonnerstag die Gelegenheit dazu, als vegetarische Alternative zum Spinat. Denn was soll ein Hausschwein schon anderes im Magen haben als Kartoffel und … Kohl.


Wo laufen Sie denn so?
Trottoir-Anarchie, bürgerliche
 

Straßen sind etwas für Autos und Roller, für Motorräder und Radler – und natürlich öffentliche Verkehrsmittel. Bürgersteige hingegen sind reserviert für Fußgänger (mit und ohne Hund), kleinere Radler (unter zehn Jahren), die Rollatorengang vom Altenheim ums Eck und wagenschiebende Mütter. Theoretisch zumindest: Was schon vor Corona kaum funktioniert hat, gipfelt gerade in einsamen Spitzen. Es ist nicht lange her, da wurde anlässlich der Eroberung deutscher Städte mit E-Scootern (und trauriger Unfälle mit abbiegenden LKWs) vom Krieg auf allen Wegen gesprochen. Dabei hat schon Joachim Heinrich Campe in seinem 1813 erschienenen Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke zum Trottoir ausgeführt, dass die Nutzung dieser vom Schmutz der Straße abgehobenen und erhöhten Wege »von breiten und platten Steinen« eingeschränkt ist: »Auf den Plattsteinen zu reiten oder zu karren ist verboten.«

Die große Tradition deutscher Stadtplanung findet in der aktuellen Zwei-Meter-Abstands­wahrung plötzlich ganz neue Herausforderungen. Wollten geniale Stadtplaner wie Ludwig I. und II. doch in erster Linie funktionierende, in diesem Fall Münchner Viertel schaffen – egal ob in Neu- oder Haidhausen, Schwabing oder der Maxvorstadt: Gehwege sind meist mit maximal 1,50 Meter Breite bemessen, bieten also keine Chance, den derzeit geforderten zwischen­menschlichen Abstand einzuhalten. 

Die Lösung: Wir nehmen eine Anleihe der beim Corso Leopold und anderen Feiermeilen geübten Praxis und erobern uns die für den Autoverkehr gedachten Prachtmeilen zurück. Und – siehe da: Diese Form des Perspektivwechsels funktioniert perfekt! Das nach wie vor erlaubte Gassigehen mit dem Tier auf den grad eh wenig bis gar nicht frequentierten Autobahnen sorgt vielleicht ab und an für einen kurzen genervten Huper, bedient aber alle geltenden Anforderungen: Abstand mit Augenmaß. Anarchie, bürgerliche at it’s best … [Nina Shell]

 

Jener hier erwähnte Schriftsteller, Verleger und Sprachforscher Joachim Heinrich Campe hat sich in der Zeit der Aufklärung äußerst verdient gemacht um die Eindeutschung von insbesondere französischen Begriffen: So gehen auf ihn unter anderem fortschrittlich (für progressiv), tatsächlich (für faktisch), die Hochschule (für Universität) und auch der Lehrgang (für Kursus) zurück. Etwas weniger erfolgreich von seinen wohl ca. 11.500 Vorschlägen zur Übernahme in den deutschen Sprachgebrauch sind seine Ersetzungen für Kultur, Katholik und Protestant. Weder der Geistesanbau noch der Zwangsgläubige geschweige denn der Freigläubige konnten sich durchsetzen. Schade eigentlich ...


Das Fundstück der Woche

 
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Challenge accepted! Das Getty-Museum hat anlässlich der Schließung fast aller Museen weltweit zu einer Neuauflage der Tableaux Vivants aufgerufen: Gemälde und Statuen des Museums werden mit Haushaltsgegenständen nachgestellt. Längst hat sich diese vom Rijksmuseum und der im Homeoffice der Amsterdamerinnen Anneloes Officier und Floor de Weger entstandene Aktion #tussenkunstquarantaine (zu Deutsch in etwa Zwischen Kunst und Quarantäne) inspirierte Idee verselbständigt. Die ursprünglich Ende des 18. Jahrhunderts entstandene Mode hat auch die in Kelowna, BC geborene Künstlerin und Designerin Alana Archer aufgegriffen und Frida Kahlos brillantes Selbstportrait in die Corona-Welt von heute übertragen. Man beachte das Fieberthermometer ...

 
 

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8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aussendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt – als Kooperations­partner sind zum Beispiel die GRANSHAN Foundation e.V., die EDCH Foundation e.V., der Deutsche Designtag e.V. und die Typographische Gesellschaft München e.V. im Gespräch.

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter bk@8daw.net oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
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Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sha], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Übersetzungen: Rachel McLaughlin [rml]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bildredaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach

Bildnachweis: 

Fundstück: Alana Archer


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