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ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 3. April 2020

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Metapher der blühenden Landschaften war mir schon immer suspekt, und dies nicht nur als Heuschnupfler. Industrialisierung und Kommerzialisierung waren kurz nach der Wiedervereinigung gemeint von Helmut Kohl – der heute 90 Jahre geworden wäre. Statt neuer, lebendiger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Orte entstanden jedoch gerne beleuchtete Wiesen, wie die Gewerbegebiets-Infrastrukturen aus Straßen, Laternen und Kanalisation von Ostdeutschen schnoddrig genannt wurden: gebaut in der Hoffnung auf künftige Gewerbesteuer-Einnahmen ... lange bevor man Käufer für die Flächen hatte. »Das Prinzip der Wirtschaft ist der Kredit. Die Gewinne, die sie jetzt machen würde, sind längst verteilt«, erläutert Thomas Steinfeld zu diesem Prinzip Hoffnung in einem hinter der Bezahlschranke befindlichen SZ-Artikel. Eine kompakte Kette von Zahlungsversprechen, »die durch immer neue Zahlungsversprechen abgelöst werden, diese immer schon und immer weiter verpfändete Zukunft bildet die Grundlage und das Verfahrensprinzip dessen, was man die Wirtschaft nennt. Deswegen kennt sie keinen Stillstand, sondern nur die Bewegung. Deswegen kennt sie kein Verharren, sondern nur das Mehr.«

Auf der Suche nach kleinen Haltepunkten in diesem rasenden Stillstand – im Homeoffice mit gelegentlichen Ausflügen in eine abstandswahrende Welt – bin ich bei Ritualen gelandet. Sie könnten helfen, denn sie lassen sich »als symbolische Techniken der Einhausung definieren. Sie verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort.« Byung-Chul Han beschreibt in seiner Kapitalismuskritik Vom Verschwinden der Rituale: Eine Topologie der Gegenwart Zeit als das, was im Raum eine Wohnung ist. Rituale »machen die Zeit bewohnbar. Ja, sie machen sie begehbar wie ein Haus.« 

Meine neue Raumordnung ist in diesen Tagen ein freitagabendliches Ritual, ein Dinner for Two geworden: der schön gedeckte Tisch, das mit Sorgfalt und Liebe vorbereitete Essen, Kerzen… und ja, Blumen, blühende!

Herzlich
Boris Kochan

 

Mein sehr entfernter Verwandter, der 2009 gestorbene Lehrer und Komponist Günter Kochan hat den blühenden Landschaften seine letzte Sinfonie Nr. 6 gewidmet. Erst nach seinem Tod wurde 2011 diese kritische Hinterfragung der Verheißung Helmut Kohls im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt uraufgeführt. Und damit an diesen Künstler erinnert, der wie so viele andere Ost-Künstler auch »den Spagat zwischen Tradition und Moderne oder besser den DDR-spezifischen Kompromiss zwischen dem sogenannten Sozialistischen Realismus und der musikalischen Avantgarde« versuchte. Es lohnt sich, diesen durch die Übernahme der DDR verschüttgegangenen Künstlern nachzuspüren.    


Grüße aus dem Zwischenraum

 

Dem Typografen ist das in besonderer Weise gegeben: Die genaue Wahr­nehmung dessen, was da ist, wie auch dessen, was nicht da ist. Durch den Zwischen­raum laden sich etwa zwei in Beziehung gesetzte Buch­staben mit Spannung oder Lange­weile auf, entsteht ein visuelles Knirschen, vielleicht ein Knattern, Sprudeln oder Springen. Genau da, wo ver­meintlich nichts ist, entsteht die Musik! (Der ja auch die Pause – also keine Musik – Schwingung, Farbe, Gefühl verleiht.)

Während der Typograf ein präzises Gespür für den perfekten Zwischen­raum ausbildet (vormals war die Stärke eines Seidenpapiers, das zwischen Blei­buch­staben geschoben wurde, die Maßeinheit für die Darstellung der erwünschten Beziehung), fällt es mir schwer, den ange­brachten Abstand von zwei Metern ein­zu­schätzen. Ich bin dankbar für Markierungen, etwa vor Super­markt­kassen, die mir den rechten Abstand zwischen dem ersten Wartenden und mir aufzeigen. Was aber geschieht im Raum zwischen uns? Womit füllt er sich? Ich stelle fest, dass sich zwei Meter Abstand zum vor mir Wartenden anders anfühlen als zwei Meter Abstand zum Wasch­mittel­regal. In solche Über­legungen schleicht sich ein Satz von Roland Barthes aus Frag­mente einer Sprache der Liebe. »Ich errate, dass der wahre Ort der Original­ität weder der Andere noch ich selbst bin, sondern unsere Beziehung.« Dieser Satz steht auf unserer Haus­wand in der Hirschgartenallee. Aber derzeit sind wir ja alle im Home­office. [gw]

 

Aus 80 Bruchstücken formt der französische Philosoph, Schriftsteller und Literaturkritiker Roland Barthes in Fragmente einer Sprache der Liebe die Landschaft einer Liebesbeziehung. Von Abhängigkeit bis Zärtlichkeit, von Anbetungswürdig bis Zugrundegehen.

Professor Martin Stingelin, Literaturwissenschaftler an der Technischen Universität Dortmund, sagt über ihn: »Ich glaube, noch immer die gelehrigste Schülerin Roland Barthes‘ ist die Werbung, weil sie sehr genau bei Roland Barthes gelernt hat zu durchschauen, wie man blendet. Im Übrigen ist das ein schlafender Riese, Roland Barthes. Die Tauglichkeit seiner analytischen Instrumente, dasjenige in unserer Gegenwart zu durchschauen, was uns blendet, ist zeitlos.«

Über die als angemessen empfundenen Abstände in unterschiedlichen Kulturkreisen kann man sich auch in Corona-Zeiten prächtig amüsieren: Alexander Groth gibt eine Vorlesung über Interkulturelle Kommunikation.


 

Morgensterns weithin bekanntes Gedicht über eine fröhliche Raumordnung darf in dieser Ausgabe von 8 days a week nicht fehlen: »Es war einmal ein Lattenzaun, / mit Zwischenraum, hindurchzuschaun. / Ein Architekt, der dieses sah, / stand eines Abends plötzlich da - / und nahm den Zwischenraum heraus / und baute draus ein großes Haus. / Der Zaun indessen stand ganz dumm / mit Latten ohne was herum, / ein Anblick gräßlich und gemein. / Drum zog ihn der Senat auch ein. / Der Architekt jedoch entfloh / nach Afri - od - Ameriko.«


Schöne alte Welt …?
 

Heute Nacht um 00:00 Uhr werden es genau zwei Wochen sein, dass in Bayern die Ausgangssperre gilt. Schon jetzt eine gefühlte Ewigkeit. Zwei Wochen Katastrophenstimmung, tröstliche Erfahrungen von Solidarität und Gewöhnung an räumliche Distanz. Genau die ist aber in ärmeren Regionen dieser Welt ein Luxusgut. Es offenbart sich dort gerade einmal mehr die fatale Verquickung von Kapital und Raum, die im Zeichen von Covid-19 eine Frage von Leben und Tod ist.

Geschätzte 13 Millionen Menschen leben alleine in Südafrika in Elendsquartieren, in denen sich bis zu acht Familien eine Unterkunft teilen. Das Wort vom Social Distancing gerät da zum Hohn. Weltweit sind es Abermillionen, die unter ähnlichen Bedingungen leben. Von Mumbai bis Los Angeles. Derweil erobern Superreiche den virenfreien Luftraum für sich, wie die rasant steigende Zahl der Flüge von Privatjets verrät. Da mutet es etwas zu euphemistisch an, wenn der Trendforscher Matthias Horx davon spricht, »dass wir in dieser Krise auch etwas […] Wunderbares erlebt haben, nämlich, dass viele von uns dachten, jetzt bricht die Welt zusammen […]. Aber die Welt ist ja immer noch da, und sie hält
Schöne alte Welt?

Was die Corona-Pandemie doch so unbarmherzig zutage fördert,
ist die Notwendigkeit einer grundlegenden Weltveränderung. Zum Beispiel die Durchsetzung eines Rechts auf menschenwürdiges Wohnen für alle und damit einhergehend eine ethische Neujustierung des globalen Kapitalismus. Solange sich aber mit Krisen Milliardengeschäfte machen lassen, wie der Hedgefonds-Investor Bill Ackman jüngst vorgeführt hat, bleibt das eine schöne Utopie. Diese Welt – da dürfte Horx ungewollt richtig liegen –, sie wird wohl halten. [um]

Wie man die Lebensbedingungen in Slums verbessern und zugleich Raum verdichten könnte, hat schon vor Jahren ein einmaliges Architekturprojekt in der Schweiz aufgezeigt. Ansätze, die es jetzt weiterzudenken gilt.


Das Fundstück der Woche

 
Irgendwo zwischen den Oggersheimer Ritualen, bei denen honorige Staatsgäste von Helmut Kohl mit Pfälzer Saumagen traktiert wurden, dem Prinzip Aussitzen und unhaltbaren Versprechungen gab es – in einer insbesondere in den vielen letzten Jahren seiner Kanzlerschaft bräsigen Zeit – ganz viel Instinkt gepaart mit Sturheit und Verantwortsgefühl für etwas Größeres: Europa. In Zeiten von geschlossenen Grenzen und Rückfall in die Klein(st)staaterei auch so ein Sehnsuchtsort ...

 
 

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Ausschließlich aus Gründen der Lesbarkeit verzichten wir in unseren Beiträgen auf die geschlechts­spezifische Schreib­weise. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind daher geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aussendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt – als Kooperations­partner sind zum Beispiel die GRANSHAN Foundation e.V., die EDCH Foundation e.V., der Deutsche Designtag e.V. und die Typographische Gesellschaft München e.V. im Gespräch.

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter bk@8daw.net oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
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Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sha], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Übersetzungen: Rachel McLaughlin [rml]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bildredaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach

Bildnachweis:
Fundstück der Woche / Helmut Kohl: ©Ullstein Bild


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