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8daw
ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 24. April 2020

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

ob es helfen würde, wenn ich anfange Mützen zu tragen? Mich zu verkleiden? Oder gar zu maskieren? Ich kann nicht anders, ich muss es deutlich sagen: Ich kann meine Fresse einfach nicht mehr sehen! In den äußerst praktischen, aber unendlich vielen und gerne auch sehr langen Videokonferenzen lässt sich der stete Blick auf sich selbst kaum vermeiden. Dabei komme ich mir bei meinen zumeist eher flüchtigen morgendlichen Blicken in den Spiegel sonst schon oft wie mein eigenes Phantombild vor: Kenne ich den, den ich da rasiere?

Überhaupt findet Kennenlernen gerade auf ganz vielen Ebenen gleichzeitig statt: Nicht nur erfährt man sich selbst, sein persönliches und berufliches Umfeld vollkommen neu, die Kanzlerin gibt sich emotional und die als kompliziert und komplex verschrieene Kultur- und Kreativwirtschaft wird von der Politik als systemrelevanter Faktor entdeckt ... dem speziell zu helfen ist.

Dabei ist das Spannungsverhältnis riesig: zwischen Solidarität und Konformität einerseits – der Mund-Nase-Schutz ist da ein perfektes Symbol. Und andererseits einer großen Sehnsucht nach dem Individuellen, dem Unorthodoxen, dem Eigensinnigen. Wolf Lotter schreibt dazu in der aktuellen Ausgabe von brand eins: »Tatsächlich ist Konformität die Ausschaltung des eigenen Denkens, der Kritikfähigkeit, das Saatgut des Populismus und das Betriebssystem der Identitären und Autoritären, ganz gleich, wofür sie sich sonst auch halten mögen. Konformismus steht aber auch für das alte industrialistische System. Und somit gegen die Wissensökonomie und die Zivilgesellschaft, gegen Fortschritt und Selbstbestimmung. Gegen jeden Einzelnen.« Und weiter: »Eigensinn ist Innovation. Und das bringt Dinge und Ideen hervor, die anderen nützen.«

Ich wünsche ein fröhlich-eigensinniges Wochenende!
Boris Kochan


Zu Besuch bei Fantômas
 

Der Weg zum Supermarkt hat sich verändert. Das liegt nicht am Weg, sondern am Aussehen der Menschen, die ihn gehen. Ist das Sabrina? Die Eingangs­sequenz der Feuillade-­Fantômas-Episoden schleicht mir in den Sinn: Während der Hauptdarsteller René Navarre in die Kamera blickt, verwandelt sich sein Gesicht mittels Schminke, Hüten, Bart- und Haarteilen. Nur die Augen blicken konstant.

 
 

In seiner Fantômas-Studie beschreibt ihn Thomas Brandl­meier als »den schwarzen Mann, der alle Ängste der Bürger zusammenfasst, aber auch ihre geheimen Wünsche«. Fantômas, der Choreograf übelster, mit großer Freude – geradezu opulent – inszenierter Verbrechen, wirkt ebenso abstoßend wie faszinierend. Wer sich mit ihm verbündet, braucht keine Angst zu haben. Der anarchistische Superverbrecher untergräbt die bürgerliche Ordnung, nährt kindliche Allmachtsfantasien, schenkt einer gesichtslosen Bedrohung Gestalt.

Ab nächster Woche werden wir nicht nur in Bayern Nase-Mund-Schutz tragen. Dabei geht es leider nicht ums Verstecken, Vorspiegeln, nicht ums Spielen, nicht um Rituale. Es geht um die Abwendung einer enormen unsichtbaren Bedrohung – für andere. Und damit auch für mich. Wir begegnen ihr mit der Ver­hüllung von Nase und Mund, was unsere Mimik auf den Ausdruck unserer Augen reduziert. Aber nachdem sich unsere Identität zunehmend via Onlineverhalten, Chip­karten­nutzung oder Code­zuordnung formt, steckt im partiellen Gesichts­verlust vielleicht sogar ein Gewinn. [gw]

 
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Maske und Phantombild: Ärzte und Krankenschwestern kleben sich Fotos auf ihre Schutzanzüge, damit sie als fröhliche, nahbare Menschen wahrgenommen werden können.


Es lebe die Freiheit!
 

Seit Neuestem kursieren Zahlen, welche die Befürchtung nähren, der Lockdown führe in Deutschlands Haushalten zu verschärftem Alkoholkonsum. Dunkle Vorahnungen ziehen auf, kollektive, alkoholbedingte Unpässlichkeit könnte nach der Rückkehr in die sogenannte Normalität der Corona-ruinierten Wirtschaft endgültig den Garaus machen. Das Handelsblatt bescherte seinen besorgten Lesern auch gleich einen Expertenrat zur Suchtgefahr im Home­office. Nach der Öffnungsdiskussionsorgie droht nun womöglich die Besäufnisuntergangsdiskussion.

Schon ahnt man den Ruf: Und wer zahlt die Zeche? Wie günstig wäre jetzt doch die Gelegenheit, es anderen gleichzutun und ganz nebenbei ein Alkoholverbot zu verhängen, wo das Grundrecht auf Handlungsfreiheit doch sowieso schon eingeschränkt ist? Dieses sieht allerdings auch vor, dass wir uns selbst schädigen dürfen, solange andere dadurch nicht gefährdet werden. Strafrechtler wie Lorenz Böllinger leiten daraus folgerichtig ein Recht auf Rausch ab, was wiederum gestrenge Sittenhüter verdrießlich stimmt.

Wer sich unbedingt weltflüchtigen Halluzinationen hingeben möchte, könnte aber auch ganz leberschonend die Wirkung totaler sinnlicher Abstinenz erproben. Der Lockdown bietet sich optimal dafür an. Sensorischer Sinnesentzug bedeutet die Abwesenheit von äußeren Reizen und die führt zu halluzinatorischen Sensationen, weil das unterforderte Gehirn irgendwann beginnt, den Erlebnismangel mit einem eigenen Unterhaltungsprogramm zu kompensieren – nicht zu verwechseln mit dem gemeinen Phantomschmerz. Allerdings können dabei Nebenwirkungen auftreten, die handfestes Irre-Sein nahelegen. Da ruft man doch lieber mit Goethe aus: »Es lebe die Freiheit! Es lebe der Wein!«. [um]

 
 

Halluzination ganz ohne Nebenwirkung

 
 
 

Sensorischer Sinnesentzug der anderen Art: ähnlich der auch nie realisierten Concept Cars der Autoindustrie präsentiert der chinesische Architekt Sun Dayong seine als Rucksack getragene Designstudie Be a Bat Man. Die in Anlehnung an Fledermäuse geformte Schutzvorrichtung gegen Corona- und andere Viren verwendet UV-Licht, um sich selbst zu sterilisieren.


Das Phantom der Oper
 

Gespenstisch. Die Kamera gleitet über Säulen und Stukkaturen der Eingangshallen, nach oben geschwenkt, um von der Leblosigkeit am Boden abzulenken. Die Sitzreihen im Theaterrund düster und leer. Im Hintergrund Schritte und Glockenschläge. Gruselig – das Phantom der Oper. Es läuft Boris Godunov, nicht das Musical von Webber. Und so wird enttäuscht, wer auf den Auftritt des Monsters mit der Maske wartet.

Stattdessen werden sich vielleicht bald 700 Masken zeigen: Wenn wieder Normalität eintritt, und jeder dritte Platz mit einem glamourösen Mundschutzträger besetzt ist – zwei Plätze dazwischen bleiben leer. Dann erwacht die Oper, die jetzt Phantom ist, wieder zum Leben. So tröstlich die überbrückenden VOD-Produktionen sind, die Opernfans über die Zwangspause hinweg retten, so unbefriedigend flimmern großartige Inszenierungen über 17-Zoll-Monitore. Man könnte es fast Phantomschmerz nennen: Wie wenn ein abgetrenntes Körperglied durch eine Prothese ersetzt wird … Da kann Nikolaus Stenitzer in seiner Unmöglichen Enzyklopädie, die sich aktuell mit dem Thema Reduktion befasst, lange von erweiterten Wahrnehmungserlebnissen schwärmen, die das Eindampfen einer Live-Gesprächsrunde auf eine Hörfassung bereite. Er vergleicht das mit dem Vorgang des Reduzierens in der Kochkunst, bei dem die Verringerung der Flüssigkeit zu völlig neuen Geschmackssensationen führe.

Reduktion wird auch das Leben nach dem Shutdown beeinflussen – und würzen? Sind Live-Streams, 10-Personen-Versammlungen mit Videoübertragung, Ausstellungen mit begrenzten Besucherzahlen und Zeitfenstern für Risikogruppen das Rezept für ein wiedererwachendes kulturelles Leben? Immerhin könnte die digitale Zwangstransformation eine Basis ergeben, auf der neue Formen der Interaktion entstehen. Die virtuelle Weinprobe etwa – übrigens ein effektives Mittel gegen den in diesem Newsletter angesprochenen Corona-Alkoholismus, aber auch ein guter Indikator für die emotionale und sensorische Grenze der Reduktion. [sib]

 

Das Phantom ist die Ikone eines Missverständnis: in den Hochzeiten von Cabernet-Sauvignon geschwängerten Bordeaux-Exzessen versuchten burgenländische Winzer an den Erfolg der italienischen Supertuscans anzuschließen. Das Fachportal Wein-Plus schwelgt in schönster Weinsprache über den 2015er des Weinguts K+K Walter und Irmgard Kirnbauer und verpackt damit hintergründig die in der Weinwelt gängige Kritik am immer wieder viel zu schwer ausgebauten Blaufränkisch, hier als Cuvées mit Merlot, Syrah und Cabernet mit 13,5 Umdrehungen: »Leicht animalischer, auch etwas erdiger und an Wacholder erinnernder Duft nach teils eingemachten gemischten Beeren und etwas Kirschen mit an Rote Bete erinnernden Aromen, ein wenig Pfeffer und Provencekräuter. Reife, herb-saftige, teils eingemacht wirkende und dennoch überraschend kühle Frucht mit Kakaonoten, Provencekräutern und ein wenig Pfeffer, Speck und Kakao am Gaumen, nachhaltig, etwas Rhabarber und wieder auch Rote Bete, würzige Töne, nachhaltig, gute Substanz, noch jung, etwas Salz, sehr guter, leicht schärfend-würziger Abgang mit herbem Saft, bitterlich-tabakigen Tönen und mineralischen Noten.« Dem ist nichts hinzuzufügen ...


Das Fundstück der Woche

 
 

Nase-Mund-Schutz trägt Phantombild: In San Francisco fertigt die Produkt-Designerin Danielle Baskin mit ihrer gerade gegründeten Unternehmung Resting Risk Face individuelle Atemschutzmasken … Die Gesichter der Benutzer werden auf Masken gedruckt, damit auch während des Tragens die Gesichtserkennung funktioniert.


 
 

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8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aussendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt – als Kooperations­partner sind zum Beispiel die GRANSHAN Foundation e.V., die EDCH Foundation e.V., der Deutsche Designtag e.V. und die Typographische Gesellschaft München e.V. im Gespräch.

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter bk@8daw.net oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sha], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Übersetzungen: Rachel McLaughlin [rml]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bildredaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach

Bildnachweis:
Doktoren-links: derekdevaults
Doktorin-Rechts: Pegsfordays
Wearable Shield: Sun Dayong
Weinflasche: Weingut K+K

Fundstück: Danielle Baskin

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