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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 30. April 2020

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

geht es nur mir so? Ich beobachte, wie ich eigenartige Gelüste bekomme, zum Beispiel plötzlich Schokolade, Kekse und sogar Marmelade esse. Oder Butterbrote mit Sardellenpaste vertilge, wie früher als Kind. Und mich für Bergwanderungen interessiere … und das als Heuschnupfler. Ja, ich kann mir sogar vorstellen einen Wandertag zu organisieren, wenn wir uns dann irgendwann wieder physisch treffen können.

Was sind das nur für Mechanismen, mit denen wir uns im Ungemütlichen einrichten? An was halten wir uns fest, auch jetzt, wo die vielfach empfundene Solidarität ergänzt wird durch die wiedererwachende Debatte, wo Vielfalt wieder wahrnehmbar wird – trotz dieser gleichmachenden Masken, die das spontane Gespräch und gemeinsame Fröhlichkeit im öffentlichen Raum so erschweren. Unter dem Titel Was rettet schrieb Carolin Emcke in ihrer lesenswerten Kolumne in der Süddeutschen schon vor drei Wochen, es »kann ein Rhythmus sein, der in einer haltlosen Ordnung eine Struktur einzieht, es können Rituale sein, die durch ihre Wiederholung allein schon eine gewisse Stabilität erzeugen, es können Objekte sein, die an etwas erinnern, eine andere Gegend, eine andere Zeit.« Die Idee zu eight days a week ist deutlich vor der Coronakrise entstanden, nimmt diese Gedanken aber gerne auf: Wir verstehen unsere in dieser Woche erstmals öffentlich erscheinenden Streifzüge durch den Wandel als eine Art kleines Geschenk – um in Verbindung zu bleiben. In Ausnahmesituationen sind es die antiken Mythen, die Zeugnisse von Überlebenden, was allen das Existenziellste war, führt Emcke dazu weiter aus, »die Freundschaft, die Hinwendung zu einer anderen Person oder einer Gemeinschaft. Sich um andere zu sorgen, sich für andere zu verausgaben, sich mit anderen zu verbinden, von anderen zu lernen, alles einzusetzen, was man hat, und es zu teilen.«

Ich muss jetzt noch schnell ein paar Kekse essen … und wünsche ganz herzlich ein super-großzügiges Wochenende!
Boris Kochan

Nach 13 Ausgaben in der nichtöffentlichen Alpha-Phase versuchen wir uns nun im Beta-Stadium – und freuen uns weiterhin über Anmerkungen, Ergänzungen und Austausch, über Hinweise auf Fehler ... und natürlich über Aufmunterung und Zustimmung.


Zweiter sein
 

Während ein Betatest sich leider oft noch in der Findungsphase befindet, steht das Beta unerschütterlich und unprätentiös auf dem zweiten Platz des Alphabets. Zweiter sein. Das klingt wenig ehrgeizig. Der güldene Lorbeer des Siegers gebührt dem strahlenden Alpha (m, w, d), oder? Es käme wahrscheinlich auf die Beziehung zwischen Alpha und Beta an. Stehen die beiden berührungslos, als sich wechselseitig ausschließende Gegensätze nebeneinander, werden sie zum Symbol der Trennung, Spaltung. Berühren sie sich aber, bedingen sich, finden – sich gegenseitig ergänzend – ins Gleichgewicht, dann lösen sich Trennungen auf. Tag und Nacht geben sich die Hand.

Der Schriftdesigner Adrian Frutiger widmet in seinem Buch Der Mensch und seine Zeichen ein ganzes Kapitel den Zeichen des Dualismus. Er beginnt seine Übersicht mit einem waagerecht liegenden Strich, den er als weiblich, wartend, stabil kennzeichnet. In einem zweiten Feld zeigt er diesen Strich senkrecht stehend und beschreibt ihn als männlich, aktiv, drängend. Dann berühren sich der senkrechte und waagerechte Strich an einem Ende, das Bild eines rechten Winkels entsteht. Im vierten Feld trifft der senkrechte Strich mittig auf den waagrechten. Das bewirkt die Anmutung einer ausbalancierten Waage, von Gericht und Gerechtigkeit. Im letzten Feld bringt Frutiger nun den waagrechten und senkrechten Strich mittig zur Kreuzung und setzt damit eine große, unverbrüchliche Beziehung ins Bild. Oben, unten, links, rechts werden eins. Im Alpha steckt nun das ganze Potenzial von Beta. Und umgekehrt. Oder: Nimm zwei, mach’ eins daraus. [gw]

Vom Zählen und Schlangestehen erzählt auch das Gedicht fünfter sein des österreichischen Lyrikers Ernst Jandl. Eine Strophe daraus: tür auf / einer raus / einer rein / zweiter sein.

 

Es funktioniert zuverlässig — zumindest in einer bestimmten Generation! nimm (doch) zwei lesen oder hören verknüpft sich mit den schon 1962 auf den Markt gekommenen Bonbons mit Fruchtfüllung der August Storck KG in den Geschmacksrichtungen Zitrone und Orange – hier in der besonders farbenfrohen Verpackung aus dem Jahr 1988. Mittlerweile gibt es allerdings nicht nur viele Line-Extensions wie nimm2-Milchprodukte oder Lachgummi, sondern auch deutliche Kritik zum Beispiel von der Verbraucherschutzorganisation foodwatch. Das Unternehmen wirbt gern mit wertvollen Vitaminen, die in Wirklichkeit nur in homöopathischen Dosen im sehr geringen Anteil des Fruchtsaftkonzentrats enthalten sind. 


Ein Risiko mit Nebenwirkungen
 

Jetzt wird’s ernst: Herzklopfen ist unvermeidbar, wenn eine Beta-Testphase beginnt. Glücklicherweise gibt es Betablocker, die sich bei den Betarezeptoren auf der Zellmembran einschmeicheln und sie unempfänglich machen für Stresshormone, die das Signal zur Steigerung der Herzfrequenz geben. Dass auch Blutdrucksenker vom Medikamentennotstand hierzulande betroffen sind, bringt Herzen zum Rasen und das Blut der Globalisierungsgegner in Wallung. Wieder einmal ist es, na klar, Corona, der das Thema ins Bewusstsein gerückt hat: Bei Chinas Lockdown entstanden in Europa Lieferengpässe – auch bei versorgungsrelevanten Wirkstoffen. Wer jedoch wie die Pharmaindustrie seine Effizienzsteigerungsprogramme optimieren möchte, kommt an Billiglohnländern in Asien nicht vorbei: Vor allem wenn der Patentschutz eines Präparats abgelaufen ist und die Gewinne sinken. Und dann noch die Rabattverträge der Krankenkassen!

Erfreulicherweise ist Geiz nicht immer geil: Für Powerfood und Nahrungsergänzung geben wir ja alle gerne Geld aus. Drum herrscht auch kein Mangel an Beta-Carotin-Kapseln, die von den Herstellern als Hautschutzmittel beworben werden – natürlich ohne Beweis. Lediglich bei Möhren ist ein Schutz durch Beta-Carotin vor photooxidativen Prozessen belegt: Sonnenbrand ist bei ihnen noch nie beobachtet worden. Umgekehrt wird man in diesem Sommer vermutlich überproportional viele Menschen mit dem Teint eines Wurzelgemüses sehen: Selbstbräunungscremes enthalten häufig Carotinoide. Ersetzen dafür den diesjährigen Strandurlaub in Italien. Regt sich da jemand auf? Dann: siehe oben. [sib]


Die Republik als Banane – eine Ehrenrettung
 

Ausgerechnet Bananen! – dass die deutsche Adaption des Foxtrott-Evergreens so ein Buhei auslöste, fand sogar ihr Verfasser einigermaßen Banane. Bis in den Duden hat es dieser Titel geschafft, als »Ausruf des Unmuts über ein unerwünschtes Ereignis«. Das Image der süßen Frucht, es ist für alle Zeiten angeschlagen …

Wenig einfühlsam hat sich das etwa ein Otto Schily zunutze gemacht, als er nach der verlorenen DDR-Wahl grinsend ein Exemplar in die Kameras hielt. Platt, aber nachhaltig wirksam. Feinsinniger hingegen die Wirtschaft: Dort ist vom Bananenprinzip  die Rede, wenn ein Produkt ohne umfängliche Qualitätssicherung in den Handel kommt. Jetzt könnte man argwöhnen, das sei auch wieder irgendwie bananenfeindlich, tatsächlich steckt aber eine ganz schlaue Analogie dahinter. Bananen werden grün geerntet und reifen erst beim Kunden. So funktioniert Public Beta Testing: Eine Art demokratische Qualitätsfindung, mit dem feinen Unterschied, dass in einer Demokratie der Bürger nicht Kunde, sondern der Souverän ist.

Dennoch taugt das Bild, um den Blick über pandemische Schockstarren hinaus zu weiten. Wenn jetzt wieder debattiert und gestritten wird und das Grundgesetz Gegenstand allgemeiner Diskussion ist, dann ist das nicht Ausdruck gesellschaftlicher Spaltung, sondern einer vitalen Demokratie, ja ihr eigentlicher Existenzbeweis. »Ohne den öffentlichen Streit um die Angemessenheit politischer Entscheidungen gibt es keine Demokratie«, schrieb der Philosoph Julian Nida-Rümelin in seinem Buch Demokratie und Wahrheit völlig zutreffend. Demokratie ist Public Beta Testing in Permanenz, gewissermaßen die immergrüne Banane, und jeder Reifegrad nur ein vorläufiger. Kann es da noch überraschen, dass die Banane lateinisch musa sapientium, Frucht der Weisen heißt? [um]

Nicht alle Menschen lieben Bananen. Manche hassen sie sogar. Um der sauberen Dialektik willen soll deswegen auch eine gewichtige Gegenstimme Gehör finden: Eberhard Spangenberg – genialer Weinkenner, Gourmet und bekennender Bananenhasser. Hier seine harsche Kritik der Banane in voller Länge.

Und wer jetzt noch Lust auf ein befreiendes Tänzchen hat, dem sei die Urfassung jenes heiter-bananischen Foxtrotts empfohlen, natürlich in der mitreißenden Originalaufnahme von 1921: Yes! We have no Bananas. Apropos Tanz und Banane: Josephine Bakers Bananenröckchen war dereinst der Inbegriff exotischer Verruchtheit. Was darüber in Vergessenheit geriet, ist, dass sie eine politisch hoch engagierte Frau war, die unter anderem die Résistance aktiv unterstützt hat. Eine faszinierende Biografie, die auch Bananenhasser in ihren Bann ziehen könnte …

 

Kartoffelsalat als Bananenschalenersatz: Frank Castorf verwendet erstmals große Mengen davon in seiner Inszenierung von Pension Schöller an der Berliner Volksbühne 1994. Anstelle des Hollywood-klassischen Ausrutschens auf einer in der DDR kaum verfügbaren Bananenschale musste der ganz gewöhnliche Kartoffelsalat herhalten – und wurde fortan als Selbstzitat zum Markenzeichen in seinen Theater- und Operninszenierungen. Ganz aktuell fordert das ungebrochen zornige Enfant terrible der deutschen Theatermacher im Interview mit dem Spiegel »Mehr Mut zu demokratischem Eigensinn« und sorgt mit seinen Äußerungen mal wieder für einen Aufreger. Teilen muss man seine Ansicht nicht, aber dennoch ist sie ein laut vernehmlicher Zwischenruf im demokratischen Diskussionskonzert.


Alles Beta?!
 

Der große kleine Schritt aus der geschlossenen Gruppe an die Öffentlichkeit: Die Beta-Phase! Natürlich (hoffentlich!) dennoch ein Friendly User Test. Dieser Meilenstein in der Software-Entwicklung begegnet mir fast tagtäglich – das Projekt wird erstmalig auch außerhalb des Entwicklungsteams gezeigt. Projektfortschritte werden von jetzt an für Kunden und andere Projektbeteiligte erlebbar, Detailfragen können auf dieser Basis besprochen und geklärt werden.

Die ganz klassischen Entwicklungsstadien – Pre-Alpha, Alpha, Beta und Release – sind im Alltag allerdings die Ausnahme. Feature complete wäre ein klassisches Erkennungsmerkmal einer Beta-Version. Also alles drin, nur noch testen, ein paar Fehler korrigieren und dann fertig! Es wäre zu schön, wenn dem tatsächlich so wäre. Die meisten Kommunikationsprojekte sind jedoch deutlich vielschichtiger und bestehen aus mehreren, parallelen Handlungssträngen. Beta-Design, Beta-Content, Beta-Interface. Synchronisiert nur in Bezug auf das Ziel – fertig werden –, nicht aber das Stadium. Um diese Komplexität zu bewältigen, hat sich nicht nur bei uns ein etwas abgewandelter Ansatz etabliert: Als erste Phase, die zu einer Veröffentlichung führt, wird das unbedingt zu erreichende Minimum definiert. Ohne dieses Minimum ist jede Veröffentlichung sinnlos. Alles, was darüber hinausgeht, braucht es erst mal nicht. Minimum Viable Product, kurz MVP, das kleinste lebensfähige Produkt sozusagen. Daran schließt sich dann nahtlos die nächste Ausbaustufe an – die nicht selten davon bestimmt wird, was nur mit intensiver Diskussion aus dem MVP-Kontext gestrichen werden konnte. Und dann die nächste. Und die übernächste. Und so langsam setzt sich, gerade in den digitalen Medien, auf breiter Basis die Erkenntnis durch, dass nichts jemals fertig ist. Alles entwickelt sich immer weiter – Beta als Dauerzustand. [mg]

Die Vielschichtigkeit von Beta steckt schon im Wort selbst: Als griechischer Buchstabe geboren, wird es in der Mathematik zur Bezeichnung eines Winkels verwendet und die Physik macht daraus ionisierende Strahlung – oder einen Teil der Lichtgeschwindigkeit.

 

Wenn das alpha mit dem beta tanzt – und sich die Phasen und Figuren kongenial ineinander weben: Das Alpha(tier), das Erste und damit Vollkommenste (das Beste, das Höchste, das Größte) in seiner Art, der Urgrund allen Seins … mit dem Beta, dem Übergang, dem vorläufig Vieldeutigen, Flexiblen und auch  Superschnellen (in Bruchteilen der Lichtgeschwindigkeit!). Hier im Zusammenspiel miteinander und in Literata, Maiola, Bree, Alverata, Athelas und Adelle Sans. Alles Schriftfamilien des sehr geschätzten 8daw-Schriftpartners TypeTogether. Danke Veronika Burian und José Scaglione!


Das Fundstück der Woche

 
 

Geniales Handwerk und brillante Interpretationen in süß: Das Geschwisterduo Madina Yavorskaya und Rustam Kungurov formt in ihrer Moskauer Bäckerei Tortik Annushka Kuchen der ganz besonderen Art. Natürlich auch mit Banane ...


 
 
 

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8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt – als Kooperations­partner sind zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag, der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikationsdesigner und die Typographische Gesellschaft München e.V. im Gespräch.

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
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Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sha], Herbert Lechner [hel], Nina Shell [nsh], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Übersetzungen: Rachel McLaughlin [rml]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach

Bildnachweis:

Bonbon 1988: Nimm2
Kartoffelsalat: Rythik
beta-gif: Veronika Burian
Torte: Tortik Annushka


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