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ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 3. Juli 2020

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

von ihr habe ich vor ganz vielen Jahren gelernt, wie viel Nähe und Gemeinsamkeit entsteht, wenn ich die Gäste auch bei großen Festen persönlich am Eingang begrüße. So beschreibt es auch Joseph Hanimann anlässlich der Vergabe des Goethepreises an Ariane Mnouchkine in der SZ: Hält man ihr »am Eingang des Théâtre du Soleil im Pariser Stadtwald Vincennes seine Eintrittskarte zum Abtrennen hin, steht man einer Theaterlegende gegenüber. Seit Jahrzehnten empfängt Mnouchkine dort an der Tür ihre Zuschauer, denn Theater ist für sie mehr als ein Bühnenereignis. Es ist Gemeinschaftserfahrung, eine Schule für Konsens und Dissens, ein ästhetisches Ritual, ein politischer Akt.«

Ihre Stücke entstehen aus Improvisation, Intuition und harter Arbeit, werden überhaupt erst geschrieben oder zumindest umgeschrieben bei den Proben. Von Anfang an befinden sich Mnouchkine und die Schauspieler eher in einer Art der Entdeckung und Schöpfung als in der Interpretation oder Wiederholung. Sie schaffen einen Raum, in dem all das möglich ist und füllen ihn mit Idee, Vision … und Poesie.

In meiner Sehnsucht nach Alternativen zur aktuell allerorten betriebenen Zuspitzung, zur hemmungslosen Übertreibung und rücksichtslosen Kontroverse – gern in bester oder leider auch schlimmster Absicht – bin ich in dieser Woche der Kraft der Erzählung wieder begegnet – und einem ausführlichen Gespräch u.a. mit Mnouchkine, das schon 2016 in Lettre International erschienen ist:  »Wir sind dazu da, uns gegenseitig Kräfte zu verleihen, Sinn zu geben, uns zu lieben. Das Theater, die Zärtlichkeit, die menschlichen Gefühle lebendig zu erhalten, gegen eine infernalische Maschine.«

Lassen Sie uns doch ungeschützt, ja verletzlich improvisieren an diesem Wochenende, uns auf unbekanntes Terrain begeben. Vielleicht hilft es ja, oder?

Herzlich
Boris Kochan


Ich improvisiere, also bin ich

 

Alle Menschen improvisieren – ständig und immer. Vom kindlichen Spiel bis ins Erwachsenenalter hinein, dann aber zumeist, wenn es gilt, Widrigkeiten zu meistern. Sei es nur die fehlende Zutat beim Kochen oder seien es gar die Folgen einer Naturkatastrophe. Jede unerwartete Leerstelle im schützenden Korsett aus Routinen, Planbarkeit und verlässlicher Funktionalität kann es nötig machen, spontan zu reagieren – mit Mitteln, die gerade so zur Hand sind. Nicht selten entstehen dabei kaum vorhersehbare Dinge oder Situationen, die den Möglichkeitshorizont überraschend weiten.

Improvisation ist natürlich auch das Fest schlechthin für Kreative: Da gerät sie gern zum Bekenntnis zu einer Erotik der Leere, die orchestriert werden will – unbesetzte Momente wollen Abenteuer, von den Fesseln alltagsgrauen Sinnzwangs befreit. Und nicht zuletzt ist die Improvisation natürlich das Wesensmerkmal des historisch urbanen Musikgenres schlechthin: des Jazz.

Kreativität, Improvisation und Urbanität scheinen überhaupt in einer vitalen Wechselbeziehung zueinander zu stehen. Sehen wir mal nach, was der Stadtforscher und Philosoph Henri Lefebvre dazu meinte: Die Stadt, so Lefebvre sinngemäß, konzentriere alles um einen Dichtepunkt, aus dem Unerwartetes, Neues und Produktives entsteht. Denn es existiere nichts ohne Beziehungsgefüge, in dem  »unterschiedliche Dinge zueinander finden«, und zwar wegen ihrer Unterschiedlichkeit. In der Amalgamierung von Disparatem im Unerwarteten und Momenthaften ... ist Urbanität gewissermaßen Stadt-gewordene Improvisation.

Diese Art urban-lebendiger Beziehungsgefüge ist allerdings Pandemie-bedingt ins Gerede gekommen. Stadtplaner und Architekten spitzen schon die Stifte und es bleibt zu hoffen, dass sie in einer Viren-gesicherten Stadt von morgen Möglichkeitshorizonte nicht komplett verbauen. Sondern dass es ihnen gelingt, Raum für improvisatorisch-kreative Interaktion zu bewahren! [um]

 
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Städtebau-Theoretiker und Improvisationsmusiker mit internationalem Ruf: Christopher Dell geht in seinem 2016 erschienen Buch Die Stadt als offene Partitur der Frage nach, wie neue Realitäten entstehen, und zeigt dabei, wie musikalisches Denken unerwartet erhellende Einstiege in das Verständnis von Stadt und Urbanität bieten kann. 


»Einfach nehmen, was da ist, und loslegen«
 

Tage voller Gegensätze. Der Leuchtstoffröhren-Satz von Maurizio Nannucci am Münchner Lenbachhaus ist ein guter Begleiter: You can imagine the opposite. Fremd- vs. Selbstbestimmung. Ernsthaftigkeit vs. Spiel. Lüge vs. Wahrheit. Ein weiterer Gegensatz wäre Organisation vs. Improvisation. Während der erste auf Struktur, Regeln, Wiederholbarkeit fußt, nährt sich der andere von Intuition, Erfahrung und Empathie. Der eine strebt die verlässliche Struktur arbeitsteiliger Systeme an, dem anderen wird die Vorstellung nicht wirklich durchdachter Lösungen unterstellt. Hier: Dauerhaftigkeit, dort: Spontanität. Hier: Kontrolle, dort: Entfaltung.

Wen jemals eine Improvisation in der Musik, im Tanz oder Theater berührt hat, der weiß, dass solche Entfaltung nicht einfach irgendetwas ist, kein planloses Treiben, keine narzisstische Selbstdarstellung ... vielmehr tiefe Konzentration. Da entsteht aus vielschichtiger Erfahrung und Hinwendung spielerische Leichtigkeit. Im Abschweifen und Fortstreben kündigt sich das Ankommen schon an. Dem Wort Improvisation liegt das lateinische im-pro-visus zugrunde: un-vorher-sehbar, unerwartet.

Unerwartetes schaut auch in Organisationen gern vorbei. Um handlungsfähig zu bleiben, obwohl keine gewohnte Regel greift, ist Improvisations­geschick gefragt. Ein Meister­stück der Improvisation heißt übrigens Schwellen­präsentation. Ausgelöst wird sie zumeist durch Prokrastination – dem Aufschieben und Verdrängen der Vorbereitungen bis zum Präsentationstermin. Erst auf der Schwelle zum Veranstaltungs­raum zeigt sich dann der erste Satz (puh!), es ergibt sich eins aus dem anderen. Es läuft. Es berührt. Die Erleichterung verleiht ungeahnte Kräfte. Der Erfolg schenkt die verbrauchte Energie vielfach zurück. Allerdings ist diese Methode nur nervenstarken Menschen zu empfehlen, solchen, die auch Nebenwirkungen wie Schlafstörungen, Unruhe oder Heißhungerattacken zu ertragen bereit sind. Also für mich wäre das nichts. [gw]

 

»Einfach nehmen, was da ist, und loslegen« – beim anti-intellektuellsten aller Filmemacher Deutschlands, wie sich Klaus Lemke selbst nennt, ist alles improvisiert. Da trifft fiese Authentizität auf unbekümmerte Spiellust, es geht um Liebe, Lügen, Träume. Die Trivialität ist kaum zu überbieten. 1978 entsteht der mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Film Amore mit hinreißenden Laienschauspielerinnen und -schauspielern, allen voran: Cleo Kretschmer.

 
 

Zwischen Upcycling und Improvisation: Die sonst eher im mondän-kitschigen Fantasy-Umfeld tätige Fotografin und Kostümbildnerin Sara Bertschinger experimentiert zur Abwechslung auch gern mal mit Klamotten aus Mülltüten, CDs oder wie hier Zeitungspapier. Eine Idee, die sonst auch an Modeschulen oder bei Pinterest Kreativität befördert. Und Instagram-like zur Selbstinszenierung beiträgt ...  


 
 

Kleines Lexikon: Wandel der Moden und des Designs

 

Knoten

Heute sei einmal eines Opfers modernen Designgeschehens gedacht: dem Knoten. Der großartige Sammler Clifford W. Ashley hat allein fast viertausend aus allen Lebensbereichen in seinem berühmten Standardwerk zusammengetragen, anschaulich von ihm illustriert. Man erinnere sich auch Gordons Knoten oder der schönen Publikation »Wie verpacke ich fünf Eier?« – die japanische Lösung ist ohne kunstreiche Knoten nicht denkbar. Im Westen ließen ihn Tesafilm, Klebeband und Plastiktüten aus dem Alltag verschwinden. Sogar Entführer und Selbstmörder haben sich längst anderen Methoden zugewandt. Die Mode hat die Abstinenz noch gefördert: Wer trägt denn heute noch Krawatte (gar mit Windsor-Knoten)? Und seit es hip ist, Sneakers ohne Senkel zu tragen, ist auch diese Bastion gefallen. Lediglich Randgruppen wie Segler, Alpinisten und – auf andere Weise ­– Chirurgen wissen noch um die lebensrettenden Funktionen des unersetzlichen Begleiters. Zeit für eine kleine Würdigung. [hel]

 

Kalender
Veranstaltungen, Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion
 

2. Juli 2020 bis 3. Januar 2021

Anette Lenz im Museum Angewandte Kunst (MAK) in Frankfurt: à propos


Die in Paris lebende deutsche Designerin Anette Lenz hat für das MAK begehbare grafische Welten gebaut: Ihre für den öffentlichen Raum entworfene Plakatkunst wird als sinnlich-emotionaler  Denkanstoß erlebbar. Sie nimmt dabei Bezug auf die an der klassischen Moderne orientierte und trotzdem teils etwas verwinkelte Architektur Richard Meiers – bereits im Eingangs­bereich findet sich ihr in viele Richtungen lesbares »Ich bin ein Teil des großen Ganzen und das ganze Große ist in mir«. Ihre durch­komponieren Plakate und Räume bewahren dabei die Poesie der Impro­visation …

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27. bis 30. Juli 2020

Writing = Design: Creative Copy Writing Workshop
mit Sonja Knecht


Diesen Sommer bietet die großartige Sonja Knecht einen viertägigen Online-Workshop im Rahmen der Berliner Universität der Künste (UdK) in Englisch an: Schreiben als Designtool. Speziell auch für visuelle Gestalter, denen der Umgang mit Wörtern oft ein Feld der Unsicherheit zu sein scheint. Aus dem Ankündigungstext: »Make words work for you! Create your own verbal personality and make your visual identity even more convincing.« Mit dabei als Gast: Christoph Rauscher von der ZEIT mit einem Vortrag »Why and how do I write as a designer«. Buchungen noch bis 8. Juli möglich.


Das Fundstück der Woche

 
 

Useless-Box: Wunderkiste mit einer Mensch-Maschine-Geschichte über Interaktion und Individualität, über (scheinbare) Improvisation und Ällabätsch. Unbedingt bis zum Schluss angucken ...


 
 

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Hier stand in den bisherigen 8daw-Ausgaben ein Hinweis zur geschlechts­spezifischen Schreib­weise. Wir denken nach einer Leserrückmeldung gerade darüber nach, wie wir damit weiterverfahren. Weiterhin gilt: Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind  unabhängig von ihrer Schreibweise geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt – als Kooperations­partner sind zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag, der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikationsdesigner und die Typographische Gesellschaft München e.V. im Gespräch.

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sha], Herbert Lechner [hel], Nina Shell [nsh], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Übersetzungen: Rachel McLaughlin [rml]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Christopher Dell: Christopher Dell
Zeitungskleid: Ulrike (Rekii) Burrmann
Fundstück: fritend1 auf Reddit


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