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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 19. Juni 2020

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

alles, was jetzt kommt, steht »im Zeichen der Transparenz«, hat Walter Benjamin zur neuen Architektur Anfang des letzten Jahrhunderts geschrieben: »Dem Wohnen im alten Sinne, dem die Geborgenheit an erster Stelle stand, hat die Stunde geschlagen. Giedion, Mendelsohn, Corbusier machen den Aufenthaltsort von Menschen vor allem zum Durchgangsort aller erdenklichen Kräfte und Wellen von Licht und Luft.« Wie schön!

Dabei hat das Höhlenmodell an Anziehungskraft nie verloren – wir müssen nur durch die Wohnungen wie auch die Arbeitswelten von heute ziehen, und stets gibt es beides: dieses Offene, Klare, Aufgeräumte. Und das wildkreative Durcheinander. Das Enge und das Weite. Und je weniger Platz, umso mehr sollte alles wohlfeil aufgeräumt sein – und umso weniger ist es dies zumeist.

Vielleicht ist es das, was an kleinen Häusern, den Tiny Houses so fasziniert – wenn sie in den einschlägigen Design- und Architekturmedien (und nicht nur dort) hervorragend fotografiert ausgebreitet werden: die Überlebensfähigkeit in diesem Akkuraten, Zugeordneten, alles an seinem Platz. Und sonst? Nix. Punkt.

Herzlich
Boris Kochan


Trautes Heim

 

Dass noch in der kleinsten Hütte Platz sei, stimmt zwar irgendwie, aber die Vorstellung, dauerhaft in einer solchen zu wohnen, hat durchaus sehr verschiedene Aspekte. Auf die zugegebenermaßen reichlich plakative Formel gebracht: Was des Minimalisten im tiny Designerhaus Freud, ist des Tagelöhners in der Wellblechhütte Leid. Klein ist eben nicht immer gleich klein. Natürlich hat der Gedanke, in süßer Askese von der Essenz des Seins zu kosten, etwas höchst Verführerisches. Umso mehr, wenn das schnuckelige und ökologisch wertvolle Eigenheimchen auch noch transportabel ist und moderne Wohnnomaden davon träumen lässt, grenzenlos frei, unberührte Natur bewohnen zu können (Auto vorausgesetzt!). Dass das aber auch Kritik auf den Plan gerufen hat, ist klar: »Mobiles Wohnen in aufgehübschten Pinterest-Baracken ist (…) keine Lösung für Wohnungsnot und hohe Mieten.« Ganz schön harter Stoff und nur eine kritische Stimme von vielen.

Dabei hatte es doch so schön angefangen, als die Architektin Sarah Susanka in ihrem 1997 erschienen Buch The Not So Big House – A Blueprint For the Way We Really Live für eine Wohnarchitektur plädierte, die sich an den tatsächlichen Bedürfnissen ihrer Bewohner orientiert. Andere verorten den Ursprung der Tiny-House-Bewegung früher: »Das Haus für das Existenzminimum muss bei geringerem Preis mehr Komfort bieten als die heute übliche bürgerliche Behausung.« So reagierte der Architekturhistoriker Siegfried Gideon 1929 auf Walter Gropius’ Forderung einer notwendigen Entwicklung einer Minimalwohnung. Die war freilich primär einem sozialen Gedanken geschuldet.

Könnte sein, dass sich die Tiny-House-Idee irgendwann mal in den Weiten skandinavischer Wälder verirrt hat. Wenn Wirtschaft und Arbeitsplätze wackeln, könnte es aber auch hilfreich sein, zu den Wurzeln der Idee zurückzukehren und deren soziale und architektonische Potenziale neu zu bewerten. [um]

 
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Die Welt gehört in Kinderhände, denn irgendwie machen die Kleinen instinktiv alles richtig. Ihre Wohnvorlieben für Matratzenhöhlen, Zelt aus Besenstiel und Decke oder Baumhaus zwischen Blattwerk und Geäst nehmen intuitiv vorweg, worüber später erwachsene Philosophen und Architekten grübeln. Die Enge innen schafft Geborgenheit, die Weite draußen suggeriert Freiheit. IKEA Russland hat anlässlich des Lockdowns Aufbauanleitungen umfunktioniert …

 
 
 

Tiny Houses sind ein allseits beliebtes Füllthema für nachrichtliche Saure-Gurken-Zeiten – so eine Art Loch Ness des bildsüchtigen Internetzeitalters. Dabei beschäftigen sich mittlerweile auch Bauausschüsse wie jener der Stadt Schweinfurt eher positiv oder das Planungsreferat in München wegen der Kollision mit dem Bundeskleingartengesetz eines Pasinger Projektes eher bremsend mit dem sozialen Potenzial für die Stadtentwicklung. Beide Berichte genauso klickförderlich wie auch das allseits beliebte Thema Das kleinste Haus der Welt (am ungewöhnlichsten Ort) – hier im Bild das Drina-Haus im serbischen Tara-Nationalpark.   


Kleiner Raum – große Freiheit
 
Sollte ich München beschreiben, würde ich wahrscheinlich nicht zuerst an trendy denken. Aber beim Trend zum Wohnen auf wenigen Quadratmetern liegt München gaaanz weit vorne. Deutschlands erste und größte Tiny-House-Siedlung steht seit 1972 im Münchner Olympiadorf. Die hier wohnenden Studierenden nennen die 1.052 Minihäuser liebevoll Bungis: 18,8 qm Wohnfläche bieten sie, begrüntes Flachdach, zwei Etagen, kleine Küche, Bad (auch klein), Balkon und so viel Flair! Die Straßen sind autofrei, die Plätze großzügig, hier wird gemeinsam gefrühstückt, gefeiert, gesportelt, gespielt. Wer mag, bemalt seinen Bungalow nach eigenem Geschmack. Wer einen sicheren Rückzugsort ins ganz Private hat, stürzt sich mit großer Lust in die Gestaltung der Gemeinschaft. Diejenigen, die das erleben durften (und dürfen), erzählen bis heute begeistert von der Oly-Community.
 
 

Wer damit liebäugelt, ein gutes Leben auf kleinstem Raum unterzubringen, muss sich auf das Abenteuer der radikalen Entrümpelung einlassen. Etwa 10.000 Gegenstände besitzt ein Westeuropäer im Durchschnitt, die Tiny-Zielgröße liegt bei wenigen Hundert. Schon die Reduktion der Dinge zwingt die Aufmerksamkeit aufs eigene Leben. Der Bruchteil gewohnter Wohnkosten erhöht zudem die Freiheit, kostbare Lebenszeit ganz nach eigenem Gusto gestalten zu können. Und: Wer minimalistisch  leben will, muss keineswegs in einen Bau- oder Campingwagen umziehen. Tiny Houses liegen – auch wegen ihres aufmerksamen Designs und der nachhaltigen Herstellung – voll im Trend. [gw]

 

Unweit von Helsinki, auf der kleinen Insel Vallisaari, liegt die vom finnischen Designer Robin Falk entworfene minimalistische und nachhaltige Hütte Nolla – was auf Finnisch Null heißt. Sowohl beim Bau wie auch im Betrieb sollte Nolla einen möglichst geringen Fußabdruck hinterlassen. Die Konsequenz: Nachhaltige Materialien aus der Region, eine Photovoltaik-Anlage zur Stromerzeugung auf der einen Dachseite, auf der anderen ein großer Spiegel, der das Sonnenlicht reflektiert und so den Innenraum kühlt, die Küche funktioniert mit Bio-Diesel. Das Schönste: Durch die verglaste Vorderfront schaut man direkt aufs Meer. Lust auf einen Selbstversuch? Nolla Cabin kann gemietet werden – bei Airbnb.

 

Tiny Houses sind vielfach in Tokio zu finden – aufgrund von akuter Wohnungsnot, in den USA waren sie die Antwort auf die Immobilienkrise, bei der viele ihr Dach über dem Kopf verloren. Von den praktischen Aspekten des menschlichen Mit- (und Aus-)einanders ganz zu schweigen: Schließlich lassen sich zwei Mikrohäuser problemlos verbinden und bei der Scheidung wieder dividieren. Doch tatsächlich ist das positive Miteinander für Tiny-House-Konzepte maßgeblich. In Tokio funktionieren sie deshalb, weil das öffentliche Drumherum die private Wohnsphäre ergänzt: Getränke kommen aus dem Automaten, gegessen wird im Restaurant, geloungt auf öffentlichen Plätzen, geliebt in Love Hotels.

 
 
 

Inspiriert von MC Eschers isometrischen Zeichnungen will das Projekt HometownLive von Archisource aus Hunderten von eingereichten digitalen Skizzen live eine neue virtuelle Stadt bauen. Nur einen Raum voneinander entfernt, entsteht so ein großes Bild von Verbundenheit – durch Kreativität! Ihren  Lieblingsplatz zum Entspannen hat die Designerin Geraldine Witthuhn gezeichnet: eine mehrstöckige Badeanlage. Instagram entwickelt sich mehr und mehr zu einer Welt in der Welt – und erinnert entfernt  an eine längst untergegangene zweite Realität namens Second Life.


Dieser Artikel wird Sie schockieren:
»Ich bin eine Klickhure.«
 

Dieses Zitat ist natürlich purer Fake, wiewohl mit ernstem Hintergrund. Die Rede ist von den sogenannten Clickbaits, zu Deutsch Klickköder, die in den sozialen Medien und Teilen des Onlinejournalismus ihr Unwesen treiben. Klickköder animieren zum Drauf- und Weiterklicken und generieren mit gleichermaßen reißerischer wie inhaltsleerer Aufmachung beträchtliche Werbeeinnahmen.

Die Zutaten sind denkbar einfach, eine knallige Überschrift und ein ebensolches Foto – zum Beispiel vom kleinsten Haus der Weltund dann der vermeintlich spannungsvolle Cliffhanger, nach dem Motto: Wenn Du wissen willst, wie es weitergeht, dann klicke hier. Wahrheitsgehalt der Nachricht – ziemlich wurscht oder anders formuliert: Lügen, bis der Arzt kommt bzw. der Presserat eingreift. Dabei könnte es sich zum Beispiel um Frau P. aus R. handeln, die sich nach einem schrecklichen Erlebnis in ein Tiny House am Ende der Welt zurückgezogen hat …  Ach, ja, wenn Du wissen willst, was ihr Furchtbares passiert ist, dann klicke hier! Nur, man wird es niemals erfahren. Das Klick-Karussell dreht sich einfach endlos weiter. Prima sind auch Gesundheitsratgeber, wie dieser: Ärzte verraten: »Es ist ein Superkraftstoff für Ihren Darm« – garniert mit einem Foto von einer Avocado: Wenn Du wissen willst … Und so weiter!

Jetzt hat Google, nicht zuletzt auch auf medialen Druck hin, ein Policy-Update veröffentlicht, demzufolge Anzeigen mit Clickbaits ab dem 1. Juli nicht mehr geschaltet werden. Ein gar nicht mal so kleiner Sieg – auch für den Qualitätsjournalismus! Und wenn Du wissen willst, wie es weitergeht, dann… [um]

 

Vermarktung pur? Die Tiny-House-Idee lässt sich auch zur Demokratisierung des Städtebaus umfunktionieren, so zumindest beschreibt das Ecovillage sein Projekt Tinyliving: Die Großstadtvariante der Hütte am Waldrand. Mobile Tiny Houses mit 15 bis 25 qm werden mit stapelbaren, ebenfalls mobilen Modulhäusern mit ca. 30 qm und klassischen drei- bis viergeschossigen Bauten kombiniert. Insgesamt 500 Wohneinheiten für 800 Menschen – da denkt man schon ein bisschen an die Stangenmeter- Faustformel, die Biohühnern in Deutschland 18 cm zugesteht, pro Huhn und Schnabel sozusagen ...


 
 

Kleines Lexikon: Wandel der Moden und des Designs

 

Das Handy

Die Archäologie der Moderne birgt manch vergessene Schätze. Noch in ihren alten Räumen zeigte die Neue Sammlung Nokia Handy-Designs. Für die Jüngeren: Nokia war einmal der weltweit führende Handy-Hersteller. Zahlreiche Modelle illustrierten quasi Darwins Evolutionstheorie: groß, klein, ganz klein, grau, schwarz, bunt, widerborstig oder glatt. Und dabei war kein Ende abzusehen, auch andere Hersteller gingen gestalterisch wie technisch viele Wege. Doch dann kam Apple und das Apple Design – künftig Benchmark. Das große Einverständnis: keine Kanten, keine Ecken, traumhafte Optik. Eine Art kleine Schokotafel, leicht abgerundet, die man immer erst falschrum hält und die ständig irgendwo rumflutscht. Inkompatibel mit allen anderen außer Apple. Auch das ist Design.

 

Das Fundstück der Woche

 
 

Wiedereröffnung hinter Masken: Die Berliner Volksbühne plant ihre neue Spielzeit 2020/21 unter dem Leitgedanken POLIS / RESET – es geht um die Suche nach den Möglichkeiten des politischen Handelns.


 
 

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Hier stand in den bisherigen 8daw-Ausgaben ein Hinweis zur geschlechts­spezifischen Schreib­weise. Wir denken nach einer Leserrückmeldung gerade darüber nach, wie wir damit weiterverfahren. Weiterhin gilt: Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind  unabhängig von ihrer Schreibweise geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt – als Kooperations­partner sind zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag, der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikationsdesigner und die Typographische Gesellschaft München e.V. im Gespräch.

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sha], Herbert Lechner [hel], Nina Shell [nsh], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Übersetzungen: Rachel McLaughlin [rml]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Haus auf Fluss: Milos Ljubomirovic 
Badewannen ISO: Geraldine Witthuhn
Masken-Collage: Volksbühne Berlin


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