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8daw

ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 22. Mai 2020

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

sie verdient Geld mit großen und kleinen Zetteln – dies war die kindliche Beschreibung des ersten Berufs meiner Mutter: Bibliothekarin und Dokumentarin. Auf der kleinen Karteikarte wurden die bibliografischen Daten notiert, auf dem zweiten, in etwa DIN-lang-formatigen Zettel wesentliche Inhalte für das Schlagwortverzeichnis stichpunktartig exzerpiert. Diese Mischung aus inhaltlicher Beschäftigung und strukturierendem System fasziniert mich bis heute und entspricht – ich bin gerade selbst etwas überrascht – in ganz herausragender Form dem Beginn fast jeder kreativen Tätigkeit. Flanieren und sammeln, gucken und lesen … und sortieren. Jegliches Design ohne diese Auseinandersetzung ist nur Oberflächen-Tutu. Klar, im Weiteren braucht es unbedingt auch Das-wieder-Durcheinanderbringen, Neu-Zusammensetzen, das Regelnbrechen, Freche-Analogien-Finden usw. Entwerfen ist auf schönste Weise Chaos und Ordnung!

Im genialen Werkzeug zur Erstellung von zum Beispiel wissenschaftlichen oder literarischen Arbeiten, dem Zettelkasten, schwingt beides mit – vereinen sich darin schon rein sprachlich der lose, ungebundene Zettel, das Beiläufige, Offene, Vergängliche. Und der Kasten, das Gesetzte, Rahmengebende. Inhalt und Form eben. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich mich in der räumlichen und physischen Steigerung von Kasten und Zettel, in – privaten wie öffentlichen – Bibliotheken so unglaublich wohlfühle?

Ein wohl geordnetes Wochenende wünsche ich – und ganz viel Lust darauf, etwas Überraschendes anzuzetteln!
Boris Kochan

 

Frank Wagner begleitet unser kleines Projekt 8daw schon von Beginn an – und ist mit seinem Magazin zu Design und Gesellschaft nomad auch (bisher einziger) Medienpartner. Anstelle einer Corona-bedingt verschobenen Ausgabe Nr. 9 haben er und sein Team eine schöne Aktion gestartet: eine kleine Umfrage, die Ideen und Aktionen für eine Zeit nach und mit Covid-19 und zum notwendigen Wandel sammelt. Und so weit mehr ist als ein Stimmungsbild … ein Ort des Aufbruchs!


Oh, erzähl mir alles von Anna Livia!

 

Sachenfinden ist eine der besonderen Begabungen der gestern immerhin schon 75 Jahre alt gewordenen Pippi Langstrumpf. »Die ganze Welt ist voll Sachen«, sagt sie, »und es ist wirklich notwendig, dass jemand sie findet.« Sie hebt eine rostige Blechbüchse auf. »So ein Fund!« jubelt sie, »Büchsen kann man nie zu viele haben.« Dann schustert sie der Büchse Bedeutungen zu: Büchse, um einen Kuchen aufzubewahren, Büchse, die man über den Kopf stülpt, um Nacht zu spielen ...

Zu Kindertagen haben Familienausflüge oft zum Museum für Franken geführt. Die Schaukästen der Archäologischen Sammlung haben es mir besonders angetan. Da lagen unterschiedlich große Steinsplitter in schöner Ordnung, handnummeriert und mit verblüffenden Erläuterungen: Scherbe eines Glockenbechers, Splitter einer Scheibenfibel, Pfeilspitze … Ich fing an, Sachen zu suchen, zu finden und umzudeuten. Da wurde aus einem Stück Alufolie das Fragment einer silbernen Haarspange, der abgenagte Rippenbogen eines Brathuhns zum Kiefersplitter einer Heldin. In späteren Jahren führten wir bei Kochan & Partner die kreative Mittagspause ein. Oft schlenderten wir zum Schlosspark und sammelten Analogien. Da wurde ein Vogelhaus zum rennbahntauglichen Hut, in Schloßmauer und Baumrinden entdeckten wir unzählige Portraits des Tänzers Sacharoff, aus den Schatten von Gesträuch und Unterholz lösten sich die Wildtiere der Savanne. Freie Sammlungen sind ein Vergnügen, fokussierte noch viel mehr. Ein Thema – zahllose Anknüpfungspunkte: Material, Geruch, Klang, Stimmung, Zeitgeist, Verwandtschaften usw. – eine bereichernde, erweiternde, überraschende Sammlung entsteht. Vielleicht könnte dies ein Anfang sein: »O tell me all about Anna Livia!« Mit diesen Worten eröffnet James Joyce in Finnegans Wake das Kapitel über Anna Livia Plurabelle. Erzähl' mir alles! [gw]

 

Auch Goethe war bekennender Sammler. Das Zitat »Sammler sind glückliche Menschen« wurde ihm allerdings nur zugeschrieben – wie viele andere vermeintliche Goethe-Zitate. Solche Unsicherheit nutze Bertolt Brecht schon als Schüler. Nach eigenen Angaben erfand er ständig Goethe-Zitate und trug diese zur Unterstreichung seiner Ansichten vor. Da sich kein Lehrer sicher sein konnte, alle Goethe-Zitate zu kennen, konnte ihm während der Schulzeit nichts nachgewiesen werden.

 
 

Magier des Lichts wurde der im letzten Jahr leider verstorbene Münchner Designer Ingo Maurervon seinen Freunden genannt – mit seinen Zettel’z 5 bringt er Licht in Notiertes und Gesammeltes, hier im Bild in der vergriffenen Sonderedition Zettel'z Laughing Buddha.


Luhmanns schwarzer Schwan
 

Noch immer wird er in einem verborgenen Raum der Bielefelder Uni ausgewertet: Der Zettelkasten, des Soziologen und Universalgelehrten Niklas Luhmann, der als geisteswissenschaftlicher Schatz ohnegleichen gilt. Über 40 Jahre lang hat Luhmann darin Gedankenskizzen, Fundstücke und Literaturhinweise gesammelt. Am Ende waren es geschätzte 90.000 Zettel. Eine »Kombination aus Unordnung und Ordnung, von Klumpenbildung und unvorhersehbarer (…) Kombination«, wie er selbst meinte und dabei gleich auch eine Beschreibung kreativer Prozesse von einsamer Knappheit und Prägnanz hinterließ. Ein Zettel gibt jedoch noch immer Rätsel auf – darauf steht geschrieben: »Im Zettelkasten ist ein Zettel, der das Argument enthält, das die Behauptungen auf allen anderen Zetteln widerlegt. Aber dieser Zettel verschwindet, sobald man den Zettelkasten aufzieht (…).« Ein Scherz des durchaus humorvollen Meisterdenkers?

Was wurde darüber spekuliert. Merkwürdig, dass nur nicht daran gedacht wurde, dies könnte das wissenschaftliche Credo Luhmanns sein. Ein Hinweis auf jenen schwarzen Schwan, dessen Auftauchen in einer Welt, die nur weiße Schwäne kannte, die Vorstellung darüber, was wahr oder unwahr ist, atomisiert: Eine neue, unvorhergesehene Erkenntnis – und das schönste Denkgebäude ist perdu. Mit dieser intellektuellen Redlichkeit knüpft Luhmann an eine uralte Geschichte an, die Platon über Sokrates erzählt. Auf der Suche nach jemandem, der weiser sei als er, schlussfolgert Sokrates messerscharf über eine seiner Versuchspersonen: Er »glaubt, etwas zu wissen, obwohl er nichts weiß; ich dagegen weiß zwar auch nichts, glaube aber auch nicht, etwas zu wissen. Um diesen kleinen Unterschied bin ich (…) weiser.« Ach, würden doch all die Verschwörungstheoretiker und Möchtegern-Welterklärer zur Abwechslung mal Platon statt Google lesen! [um]

 

Das auch in der Wissenschaftstheorie gern zitierte Bild vom schwarzen Schwan geht angeblich zurück auf den römischen Satiriker Juvenal, dessen Humor heute allerdings einigermaßen abgestanden erscheint. Deswegen verzichten wir aus Gründen des guten Geschmacks an dieser Stelle auf einen Link. 

 
 

Ein anderer berühmter Zettelkasten entstand in einem kleinen Ort in der Lüneburger Heide. In Bargfeld hatte sich Arno Schmidt, einer der bedeutendsten deutschen Literaten, seine produktive Solitude eingerichtet. Ohne diesen Zettelkasten hätte Schmidt eines seiner Hauptwerke, den monumentalen ZETTEL’S TRAUM, wohl nie geschrieben. Allerdings bezieht sich der Titel weniger auf jenen Zettelkasten als vielmehr auf eine Figur aus Shakespeares Mittsommernachtstraum, den Handwerker Zettel.


Sammelsurien

Kunst und Lust des Sammelns

 

Suche qualifizierten Jäger (m) und findige Sammerlin (f). Eine Stellenanzeige in der SZ – Steinzeit(ung). Jagen war Männersache, fürs Sammeln waren die Mädels zuständig. Denn das ließ sich – seufz, und damals gab es noch nicht mal virusbedingte Kita-Schließungen – besser mit der Kinderbetreuung vereinbaren. Das Sortieren des Sammelsuriums ging dann sogar im Homeoffice. Als die Revolution der Menschheitsgeschichte gilt aber der Wandel vom nomadischen Jäger- und Sammlertum zu sesshaften Bauern und ViehzüchterInnen, was endlich ein bisschen Kalkulierbarkeit ins Dasein brachte. Denn genau das, was Sammeln für uns heute so reizvoll macht, war früher ein existenzielles Problem: Wer sammelt, muss suchen. Und finden ist Glückssache.

Sozialpsychologen behaupten, dass die Hauptmotivation menschlichen Handelns mit Sammelleidenschaft vergesellschaftet ist. Man sammelt aus Neugier Informationen, aus wirtschaftlichem Interesse Aktien, aus Eitelkeit Autos, aus Angst Lebensmittelkonserven, aus Kontrollzwang Quittungen und aus Liebesbedürfnis … Briefmarken. Und unfreiwillig: Erfahrung. Das tut übrigens auch die Natur: Evolution ist nichts anderes als eine unwillkürliche Sammlung von Erfahrungswerten. Klappt, klappt nicht, klappt … doch nicht. Ja, Sammelllust ist alles andere als ein menschliches Phänomen: Bienen tun es aus existenziellen Gründen. Aber der Laubenvogel? Er ist Kunstsammler, der Steine hortet oder Früchte zerbeißt, um die Wände seines Baus farbig anzumalen. Wie manche Künstler Pilze sammeln: narrische Schwammerl oder psilocybinhaltige Pilze, die zur psychedelischen Kunst inspirieren. [sib]

 
 

Sammeln, sortieren, präsentieren: Marta Minujín, zeitweise auch in der psychedelischen Kunst zu Hause, schafft Mahnmale für Demokratie – so zum Beispiel mit der bei der documenta 14 wieder aufgegriffenen Installation Der Parthenon der Bücher. Die 25.000 während der Diktatur in Argentinien verbotenen Bücher wurden zum Abschluss verteilt und fanden ihren Weg zurück in die Öffentlichkeit und zum Leser. Diese Idee hat die 1943 in Buenos Aires geborene Konzeptkünstlerin 2011 noch einmal aufgegriffen und mit ihrem aus 30.000 Büchern aus aller Welt bestehenden Buchturm zu Babel ein ganz besonderes Symbol geschaffen für die Kraft von Büchern: »Es gab einen Turm zu Babel in Argentinien ... und er brauchte keine Übersetzung, denn Kunst braucht keine Übersetzung.«


 
 

Kleines Lexikon: Wandel der Moden und des Designs

 

Die Musiktruhe 

Sie sind‘s, der es geschafft hat! – der bekannte My-Fair-Lady-Song galt in den 50er/60er-Jahren für die Gewinner des Wirtschaftswunders. Sichtbarer Beleg des persönlichen Erfolgs: die Musiktruhe! Keine der großen und aufstrebenden Technikmarken, die nicht ihre Apparate in – mehr oder weniger – stilbefrachtetes Mobiliar verpackt hätte, von Gelsenkirchener Barock bis Neue Linie. Zunächst wurden Radio und Plattenspieler gerne mit eingebauter Hausbar kombiniert – auch diese ein beliebtes Zeichen der Zeit. Später allerdings wurde der Raum für den Einbau der ersten Fernsehgeräte benötigt. Kaum war auch deren Zenit überschritten und eine neue Musikepoche angebrochen, mit Stereoton, wechselte das Möbel zu strikter Sachlichkeit und Hightech-Anmutung. Symbol wurde das Rack, in dem die einzelnen Funktionselemente nun aufeinandergestapelt wurden – ein weiter Weg zur Musiktruhe in der Hosentasche, dem Smartphone. Doch das ist eine andere Geschichte.

 

Kalender
Veranstaltungen, Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion
 

verlängert bis 5. Juli 2020

Reisen
Entdecken
Sammeln


Alles schon lange anders im Kunstforum Ostdeutsche Galerie – neue Leitung, neues Logo, neues Konzept. Dennoch: die Verbindung, die Zuneigung zu diesem etwas abseits gelegenen Ort mit sehr eigenem Sammlungsauftrag bleibt. Diesmal entdeckt: die vier tschechischen Künstler in der Ausstellung Reisen, Entdecken, Sammeln Jirí Kolár, Jan Kubíček, Miloš Urbásek und Zdeněk Sýkora. Absolut sehens- und verfolgenswert!
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bis 15. Juni 2020

TypeTogethers
Gerard Unger Scholarship
2020


Mit der vierten Ausgabe des Gerard-Unger-Stipendium 2020 unterstützt das Team von TypeTogether Studierende und Absolventen der letzten zwei Studienjahre (2018 bis 2020) dabei, ihre vielversprechenden Schriftgestaltungsprojekte professionell fertigzustellen und zu veröffentlichen – mit Rat, Tat und Geld. Übrigens: Alle bisherigen Stipendiaten haben Preise gewonnen – drei von ihnen sogar das TDC Certificate of Excellence.


Das Fundstück der Woche

 
 

Dieser kleine Film über Niklas Luhmanns Zettelkasten war Anlass für unsere Beschäftigung mit dem Sammeln und Sortieren – insofern weniger Fundstück, sondern eher Frühstück.

 

 
 

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Hier stand in den bisherigen 8daw-Ausgaben ein Hinweis zur geschlechts­spezifischen Schreib­weise. Wir denken nach einer Leserrückmeldung gerade darüber nach, wie wir damit weiterverfahren. Weiterhin gilt: Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind  unabhängig von ihrer Schreibweise geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt – als Kooperations­partner sind zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag, der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikationsdesigner und die Typographische Gesellschaft München e.V. im Gespräch.

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sha], Herbert Lechner [hel], Nina Shell [nsh], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Übersetzungen: Rachel McLaughlin [rml]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Clever Reach.

Bildnachweis:
Zettel'z Laughing Buddha: Ingo Maurer
Buchturm zu Babel:
Marta Minujín

Zettels Traum Buch: Pavlo Kochan
Thumbnail – Luhmanns Zettelkasten:  Suhrkamp Verlag


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