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ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 16. Dezember 2022

 
 

Lieber Herr Kochan,

nennen Sie mich ruhig hoffnungslos altmodisch, aber ich kann mich immer noch über Jack Lemmons konsternierten Gesichtsausdruck kaputtlachen, wenn er am Schluss von Billy Wilders genialer Gangster- und Verwechslungskomödie Manche mögen´s heiß die Perücke abnimmt, sich dem heiratswütigen Millionär Osgood Fielding III. gegenüber als Mann outet und der nur furztrocken antwortet: Nobody is perfect. Auch wenn der Titel, Manche mögen´s heiß, es noch so nahelegt, soll es jetzt nicht ums Sparen bei den Heizkosten gehen, sondernum die allzumenschlichen Unvollkommenheiten und die mitunter ur-komischen Anstrengungen, wenigstens irgendetwas im Leben mal richtig zu machen. Was Wunder also, dass die Metapher vom Leben als Baustelle sich so großer Beliebtheit erfreut. Der Literaturkritiker Roman Bucheli nennt sie gar ein »formidables geschichtsphilosophisches Modell, nach dem alles, was der Mensch anrührt, fast unausweichlich der glücklichen Vollendung entgegenstrebt. Darum lieben wir die Metapher so sehr: Sie suggeriert uns, dass selbst die schwierigste Beziehungskiste und sogar die EU auf ein wundersames Ende zusteuern, wenn wir sie nur oft genug Baustelle nennen.«

Dann bleiben wir doch gleich bei der EU, blicken noch immer entgeistert auf die Brüsseler Korruptions-Großbaustelle und fragen uns, was da wohl noch kommen mag. Und wie sieht es so beim DFB nach dem WM-Debakel aus? Beruhigend, dass die ZDF-Sportredaktion nach dem jüngstem Auftritt der Deutschen Fußballnationalmannschaft jetzt endlich alle Baustellen des DFB Teams identifiziert hat. Dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Und – ja – auch wir hatten jüngst so unsere Baustellen bei eightdaw. Aber immerhin können wir hiermit die Testphase mit unserem neuen Newsletter-Versanddienstleister vermelden – und das natürlich mit dem ungebrochenen »Willen zur Selbststeigerung«, um eine Formulierung des Kulturwissenschaftlers Hartmut Böhme zu bemühen. Böhme sprach übrigens im Zusammenhang mit jenem Willen ebenfalls von Baustellen und zwar von echten und großen, die er emphatisch zu kulturellen Schaustellen überhöhte, zu Kompositionen gar, mit ihren komplexen »Verschaltungen unterschiedlicher sozialer, technischer, organisatorischer, kultureller, symbolischer Praktiken.« Wenn´s halt nur nicht immer so laut wäre.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein ruhiges Wochenende
Ulrich Müller

 

Selbst der umtriebigste Chefredakteur braucht hin und wieder eine Auszeit. Die hat sich mein Kollege Boris Kochan jetzt mal genommen, und bis er im neuen Jahr wieder das Ruder in unserer Redaktion übernimmt, werde ich versuchen, ihn halbwegs würdig zu vertreten.

 

Umarells werden sie genannt: Eine Wortschöpfung des Bloggers Danilo Masotti, die vom italienischen Wort omarello für Männchen abgeleitet ist. Masotti beschreibt in seinem Blog durchaus liebe- und humorvoll jene älteren Herren – zumeist Rentner –, die gerne mal den heimischen Fernsehsessel verlassen, um sich mit vorzugsweise auf dem Rücken verschränkten Händen der Faszination Baustelle hinzugeben. Natürlich nicht ohne dabei den Arbeitern mit fachkundigen Hinweisen zur Seite zu stehen, wie man denn dieses oder jenes besser machen könnte. Inspiriert hat Masozzis Blog auch den Bauunternehmer Alessio Sarra, der seither seine Leidenschaft fürs Fotografieren von Umarells entdeckt hat. Allerdings haben Baustellen und insbesondere die dort herumfuhrwerkenden Maschinen auch bei Kindern ungebrochen Hochkonjunktur und auch deren Eltern erliegen gelegentlich dieser Faszination. Denken wir  nur an jene sensationelle Wette 1983 bei Wetten, dass, als ein Baggerfahrer mit der Schaufel seines Arbeitsgerätes ein Feuerzeug entzündete.


 

Vollkommen unfertig.
 

Punkt. Und aus. Der letzte Satz ist geschrieben, das Werk abgeschlossen. Dem Werden ist ein Ende gesetzt. Doch wohnt im Unfertigen ein seltsamer Zauber: Es beflügelt die Fantasie, provoziert die Vorstellung einer (prächtigen) Vollendung des Werks, eröffnet Möglichkeitsräume, in denen nie Gesehenes, nie Gehörtes aufscheint, facht Träume an.Die damals üblichen vier Sätze soll die siebte Sinfonie, an der Franz Schubert im Herbst 1822 arbeitet, umfassen. Einer Auftragsarbeit wegen legt Franz Schubert das Werk wohl zur Seite. Ebenso wird berichtet, der Komponist hätte die Sinfonie am Ende des zweiten Satzes bereits als vollendet betrachtet. Damit würde sich die Vollkommenheit des Werkes gerade im Unvollkommenen zeigen.

Auguste Rodin beginnt 1880 mit der gewaltigen Arbeit am »Höllentor«, Gestaltungsrahmen für fast 200 Einzelfiguren, die auch seine bedeutendsten umfassen, etwa »Der Denker«, »Der Kuss« oder »Eva«, die 1899 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wird. Sie, die »Urmutter der Menschheit«, steht ohne Sockel da – im Moment nach dem Sündenfall. Die Oberfläche ist roh, kaum poliert, die Gussnähte sind sichtbar. Rodins Ausführung legt den Gestaltungsprozess offen und fordert den Betrachter auf, nicht ausgeführte Stellen mit eigener Bedeutung zu füllen. Auguste Rodin führt damit das »Non-Finito« als Stilmittel der Moderne ein. Er modelliert 37 Jahre bis zu seinem Tod am »Höllentor«.

Auch anderen kommt der Tod dazwischen. So arbeitet Robert Musil die letzten 17 Jahre seines Lebens und noch an seinem Todestag aa »Der Mann ohne Eigenschaften«. Wer würde denken, dass dieses gewaltige Meisterwerk des 20. Jahrhunderts unabgeschlossen ist? Antoni Gaudí beginnt 1882 mit dem Bau der Basilika Sagrada Família, die bei seinem Unfalltod 1926 nur zu etwa 20% fertiggestellt ist. Seither ist die Basilika eine Großbaustelle, die mehr und mehr den Zauber des Unfertigen verliert und einer unverrückbaren Wirklichkeit entgegenwächst. Vom Zwang zur Vollendung erzählt auch Ludwig van Beethovens 10. Sinfonie, die bei seinem Tod 350 Takte und unzählige Skizzen umfasst, durch eine Mensch-Maschine-Kollaboration fertiggestellt und 2021 uraufgeführt wird. Eine gute Idee? Jetzt fehlt nur noch ein brillanter Schluss. [gw]


 

Wenn das Herz zum Betonmischer wird
 

Menschen bauen Wohnstätten als schützende Behausung, es spricht vom Bettenbauen, wer etwas in Ordnung bringt, attraktive Körper sind gut gebaut, Freunde bauen aufeinander, und Genussreiches gilt als erbaulich: Sieht man vom Unfall- oder Fehlerbauen ab, ist die Tätigkeit überwiegend mit Positivem assoziiert. Nur leider ist der Ort, wo Neues entsteht oder Altes instandgesetzt wird, eher unbeliebt: die Baustelle. Rumpelnd durchwühlen Bagger das Erdreich, Staub stiebt, wenn Mauern unter der Abrissbirne zersplittern, Kräne verschandeln die Skyline, Presslufthämmer lassen die Erde beben … und Absperrungen legen den Verkehr lahm. Dabei sind Letztere nicht nur Wunden im Asphalt, sondern reißen manchmal auch die Seele der Menschen auf.

Selbst der Gutmütigste kann zur Furie werden, wenn wieder mal der selbstsichere Poser rücksichtslos an ihm vorbeizieht, um sich an der Engstelle vorzudrängen. Verkehrsbaustellen sind unliebsame Hindernisse in unserem durchgetakteten Alltag, die auch Friedfertige zu ausgeklügelten Strategen machen (Wie trickse ich die anderen aus?) und Querulanten die Chance geben, sich hinterm Steuer in einer Art Faradeyschem Sozial-Käfig hemmungslos in hupenden oder brüllenden Schimpftiraden zu ergehen – nur Social Media ist anonymer. Außerdem verleihen Größe und Design manchem SUV eine Autorität, die sich offensichtlich auf die Vorfahrtsregelung durchschlägt. Apropos Straßenverkehrsordnung: Vor allem das Reißverschlussverfahren, das vor Engstellen – und zwar exakt vor Beginn der Engstelle! – das Einfädeln-Lassen vorschreibt, führt häufig zu Konflikten zwischen den Autofahrern (Na, der A… hätte doch auch mal früher …!). Einfach mal die Zeit im Stau nutzen, um nachzurechnen, wie viele zusätzliche verhasste Gegenspieler der auf der weiterführenden Fahrbahn befindliche Fahrer vor sich hätte, wenn sich jeder schon 500 Meter vor der Engstelle einordnen wollte.

Wie wäre es überhaupt damit, Verkehrsbaustellen positiv umzumünzen zur Schule des Lebens? Umleitungen zu erleben als die Möglichkeit, Neues zu entdecken. Im Stau stehend zu lernen, die Dinge einmal genauer zu betrachten. Wanderbaustellen als Überraschungsmomente zu genießen. Und bei der Sperrung auf der Autobahn gelassen die vielen unbewegten Baufahrzeuge, die dort seit Wochen tatenlos stehen, zu zählen und zu lernen, auch Dinge zu akzeptieren, die wir nicht verstehen können. [sib]

 

Wobei sich das Geheimnis der mysteriösen Schlafbaustellen durchaus lüften lässt: Wenn etliche der über 500 Autobahnbaustellen, die es so ungefähr in Deutschland geben dürfte, ruhen und von Schwarz-Sehern eingeordnet werden als Finte der grünen Regierung, um Autofahren künftig noch unattraktiver zu machen, so steht man dort doch nicht ganz grundlos – man staut sozusagen nicht zur verkehrstechnischen, sondern zur rechtlichen Absicherung. Auch wenn ein Bauunternehmer weder Kapazitäten noch Material zur Verfügung hat, um den Auftrag abzuwickeln, so ist er doch zu einem pünktlichen Baubeginn verpflichtet. Und eine Absperrung ist da doch immerhin mal ein durchaus augenfälliger Anfang …


 

Das Fundstück der Woche

 
 

1957 im chinesischen Quanzhou geboren, ist ​Cai Guo-Qiang heute ein Star der internationalen Kunstszene. Nicht zuletzt, da er als ausgebildeter Bühnenbildner ein sicheres Gespür für spektakuläre pyrotechnische Effekte hat. Auch in seiner Sky Ladder knüpft er - wie in vielen anderen Werken - an die chinesische Tradition der Feuerwerkskunst an. 1650 Fuß oder knapp 503 Meter erhob sich 2015 die Himmelsleiter über dem Hafen der Insel Huiyu, mit der Cai Guo-Qiang symbolisch die Erde mit dem Universum verbinden wollte. Gewidmet hat er das Werk seiner damals 100-jährigen Großmutter, die er seine größte Unterstützerin nennt.


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Hirschgarten­allee 25, 80639 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 ( facebook facebook facebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Hirschgarten­allee 25, 80639 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Mailjet.

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