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ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 23. Dezember 2022

 
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

als bekennender Hypochonder – und das seit Jugendjahren – bin ich seinerzeit furchtbar erschrocken, als ich zum ersten Mal das Wort Ataraxie hörte. Selbstverständlich konnte es sich dabei nur um eine grässliche Krankheit handeln, die mich demnächst mit hoher Wahrscheinlichkeit heimsuchen würde. Das komplette Gegenteil war der Fall. Ataraxie nannten die Stoiker im alten Griechenland die Unerschütterlichkeit, die heute gerne Gelassenheit oder gar Resilienz genannt wird, und heimgesucht hat sie mich leider auch nicht. Jahre später, ich hatte gerade eine kleine Operation hinter mir und dachte über den weiteren Verlauf meines trüben Daseins nach, schenkte mir meine Frau mit einem vielsagenden Blick Peter Sloterdijks damals jüngstes Werk mit dem provokanten Titel: Du musst Dein Leben ändern. Da ich von guten Vorsätzen als Allheilmittel gegen schlechte Angewohnheiten nicht so recht überzeugt bin, habe ich dieses Werk dann auch schleunigst im Regal verstaut. Dadurch entging mir allerdings, dass der Titel aus einem Gedicht Rilkes stammt, der sich gerade mal 23-jährig bei der Betrachtung eines antiken Apollo-Torsos geradezu vom Blitz getroffen fühlte und beschloss, sein Leben fortan nur noch dem Streben nach Höherem zu widmen.

Sloterdijk hat Rilkes guten (?) Vorsatz zum Anlass genommen, in einem kühnen, kulturhistorischen Rundflug den Menschen als übendes Wesen darzustellen. Als eines, das sich erst durch stete Übung selbst erschafft, gerade auch, um krisenhafte Herausforderungen des Lebens zu meistern. Dieses Streben hat Sloterdijk ins Wort von einer stetig nach oben weisenden, menschlichen Vertikalspannung gegossen. Aber Vorsicht: Wer beim Aufstieg die Baumgrenze des Mittelmaßes hinter sich gelassen hat, dem droht ganz da oben, wo die Luft dünn wird, akute Höhenkrankheit einschließlich Bewusstseinstrübungen und Realitätsverlust … Das kommt uns doch bekannt vor. Dennoch hat Sloterdijks Gedanke etwas Bestechendes. Umso mehr nach einem Jahr, das nicht gerade als Jubeljahr in die Geschichte eingehen wird. Und so haben wir uns in der letzten Ausgabe 2022 auch gar nicht allzu sehr mit weihnachtlicher Besinnlichkeit aufgehalten, sondern schon mal den Start ins neue Jahr vorweg genommen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen größtmögliche Unerschütterlichkeit
Ulrich Müller

 

Mit dieser Ausgabe verabschieden wir uns aus dem Jahr 2022 und freuen uns auf die erste Ausgabe im neuen Jahr, die am 13. Januar erscheinen wird.


 
 

Himmlische Boten sind sie und mitunter auch gefallene: Engel, Geistwesen, die im Judentum, Christentum und dem Islam in verschiedensten Missionen zwischen Himmel, Erde – und gelegentlich auch der Hölle – unterwegs sind, nicht unähnlich den Bodhisattva im Buddhismus und Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach einer Verbindung zu göttlichem Wirken. In den Jahren von 1928 bis 1940 hat Paul Klee unter dem Eindruck des zweiten Weltkriegs und selbst schwer erkrankt eine ganze Serie von Engelbildern geschaffen. Um die 80 Bilder umfasst diese Serie. Zeichnungen, Aquarelle, Gouachen und Gemälde, mit leichter Hand geschaffen und voller menschlicher Wärme, Tiefe und Klugheit. Halb Mensch halb Engel sind diese Mischwesen, denen Klee dann auch allzumenschliche Eigenschaften zuschrieb. Bilder zugleich voller Melancholie wie auch voller Humor und Witz, vom verknautschten Engelanwärter über den Armen Engel, bis zum Engel, übervoll, von dem sich nicht so genau sagen lässt, ob er seine Hände aufs Herz oder doch eher auf den Bauch presst.


Vorsatz ohne Nachspiel
 

Zum Jahreswechsel rollt sie wieder: die Welle aus schlechtem Gewissen und Sühneversprechen. Gute Vorsätze liegen jetzt im Trend. Doch keine Sorge, das legt sich schnell wieder. Schuldgefühle scheinen keine besonders erfolgreichen Motivatoren zu sein. Nur 27 Prozent der Teilnehmenden an einer Statista-Umfrage halten ihre guten Vorsätze länger als zwei Monate durch. Eine Studie der University College unter Leitung von Dr. Phillippa Lally zeigt, dass die Eingewöhnung neuer Verhaltensweisen zwischen 18 und 254 Tage braucht. Da ist also Durchhaltevermögen gefragt – unser Gehirn lässt liebgewonnene Gewohnheiten nicht so ohne Weiteres fahren.Der Brauch, gute Vorsätze zum neuen Jahr zu fassen, geht wohl auf Silvester I. zurück, der von 314 bis zu seinem Tod 335 Bischof von Rom ist. Damit ist er aus katholischer Perspektive auch Papst. Im Übrigen der erste, der nicht mehr unter der Verfolgung von Christen in Rom zu leiden hat. Am letzten Tag eines jeden Jahres vergibt Silvester I. Reumütigen die Sünden der vergangenen zwölf Monate – allerdings nur, wenn diese auch Besserung geloben. Seither sind die guten Vorsätze in der Welt, werden gefasst und gebrochen. Wer noch zögert – die beliebtesten guten Vorsätze für 2023 finden Sie hier. Aber zum Glück gibt es auch andere Silvesterbräuche. [gw]


 
 

Armer Engel


Waschechte Gewohnheiten
 

Höchste Zeit, sich auf christliche Wurzeln zu besinnen. Nicht wegen des bevorstehenden Weihnachtsfests, das auch ohne religiösen Anstrich auskommt. Nein – statt die Verweildauer unseres grünen Wirtschaftsministers unter der Dusche zu diskutieren, sollten wir das Thema Energiekrise kulturhistorisch angehen und dabei weit zurückblicken hinter die Coronapandemie, in der sich bereits homeoffice-getriggert ein tiefes Loch im Hygieneverständnis der westlichen Länder aufgetan hat. So sehr auch die Völker der Antike ihre Hygienestandards gegenseitig in den Schmutz zogen – das Ägyptische Nil-Plantschen versus griechisches Wannenbad versus römische Badeorgien –, Einigkeit herrschte seit dem aufkommenden Christentum jedenfalls darüber, dass die Anhänger des neuen Glaubens zwar viel von der Reinheit der Seele, wenig aber von der des Körpers hielten. »Sie waschen sich nie, weil ihnen bei ihrer Geburt hässliche Männer in schwarzen Gewändern Wasser über den Kopf schütten«, heißt es über die Abendländischen in Tausendundeine Nacht.

Die trendige Non-Bathing-Bewegung ist den Christen also sozusagen in die Wiege gelegt. Dennoch zählt heutzutage in unseren Breiten die körperliche Nachlässigkeit ebenso wie Völlerei, Alkoholsucht, Schlamperei, Unpünktlichkeit zu den gerade zum Jahreswechsel viel beschworenen schlechten Angewohnheiten, denen man mit sogenannten guten Vorsätzen zu Leibe rücken möchte. Ach, wenn es nur endlich gelänge! Keine politisch korrekten Lügen mehr! Keine Lust mehr am vernunftbefreiten Genuss! Kein entspanntes Dahintrödeln! Kein kreatives Chaos! Moment: Wird nicht im Buchdruck das unbeschriebene Doppelblatt, das den festen schützenden Buchdeckel mit dem flexiblen Innenteil verbindet, in dem noch Tausende unentdeckte Möglichkeiten stecken,  Vorsatz genannt – und darf ruhig Vorsatz bleiben. Wir müssen nicht glatt wie Öl sein, sondern dürfen und sollen sogar – frei nach Günter Eich – die Sandkörner sein im Getriebe der Welt. [sib]

 

Für einen guten Vorsatz gibt es nun immerhin staatliche Unterstützung: Gestern ist der Startschuss für die neue Ernährungsstrategie gefallen, wonach es zukünftig gesünderes, zucker-, salz- und
fleischärmeres Essen in Kitas, Schulen, Universitäten und Krankenhäusern geben soll. Auch ein Test dafür, wie Cem Özdemir vor Journalisten sagte, wie Demokratie funktioniere – wobei der Bundesernährungsminister das Volk schon mit einer einzigen Aussage hinter sich gebracht haben dürfte: »… wenn es auch noch gut schmeckt, das darf’s ja auch!« Also: An die Töpfe, Ihr Köche in Mensen und Krankenhausküchen, das Genussverbot ist aufgehoben!


 
 

Engel Anwärter


Über die Feiertage
Statt Veranstaltungstipps vier ungewöhnliche Buch- und Kalender-Empfehlungen von 8daw-Redakteur·innen
 

Pavlo Kochan empfiehlt

Mythen des Alltags


Schwarzes Naturleder, ungefärbt oder quietschbunt mit Schimmer – das Symbol für menschliche Neugier – der treue Begleiter, der uns dabei hilft, die Mythen des Alltags zu entdecken und zu hinterfragen – für schnelle Skizzen, flüchtige Gedanken oder reine Stimulation durch Stift auf Papier – der treue Begleiter des Organisierten, des Planenden und des Vergesslichen – ich habe mein Notizbuch gefunden, weder Leder noch quietschbunt, aber dafür mit Schimmer.

Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-46919-4

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Sigrun Borstelmann empfiehlt

Michael Köhlmeier: Matou


Man müsste sieben Leben haben wie der Protagonist des Romans, der Kater Matou, um das 1.000-seitige Werk wirklich zu durchdringen. Aber es lohnt sich, gemeinsam mit der sprachgewaltigen Samtpfote quer durch die Geschichte dem Wesen des Menschen nachzujagen. Was man dabei findet, gäbe unserer Spezies freilich allen Anlass, sich im letzten Mauseloch zu verkriechen … und »Matou« zu lesen. Ganz sicher jedenfalls ein heißer Tipp für Katzen-Liebhaber.

Hanser Verlag
ISBN-13: 978-3-446-27079-4

 

Martina Wember empfiehlt

Patrick Frey: Gregor 2023


Im Siebdruck wurden Tage und Monate in minimalistischster Form auf die gestrickte Basis gebracht. Der Clou: Man trennt das Stück von unten auf, sobald der Tag vorbei ist. Was bleibt: ein Knäuel Wolle auf dem Tischchen, oder Boden darunter … Eher nichts für Katzenbesitzer, sonst ist das Jahr schneller gelaufen, als einem lieb ist!

Per Mail bei Literatur Moths bestellbar.

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Gabriele Werner empfiehlt

F.K. Waechter: Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein


Wenn das feierliche Gefeiere ins Bräsige rutscht, kann ein Griff zu F. K. Waechters »Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein« Erleichterung bringen: 150 hinreißende Zeichnungen, menschenfreundlicher Sarkasmus, harmlose Blödeleien und rabenschwarzer Humor.

Diogenes-Verlag,
erhältlich über Thalia


Das Fundstück der Woche

 
 

Um noch einmal auf Sloterdijk zurückzukommen: Der Mensch ist nicht nur ein übendes, er ist auch ein überaus praktisch veranlagtes Wesen, das sich die Gesetze der Mechanik untertan gemacht und darüber zu so genialen Erfindungen, wie der Weihnachts-Geschenk-Verpackungsmaschine gelangt ist. Eine Gerätschaft, deren Betrieb durchaus auch an das berühmte Video des Schweizer
Künsterduos Fischli und Weiss denken lässt: Vom Lauf der Dinge.


 
 

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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Steinerstraße 15c, 81369 München, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebookfacebookfacebook)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Steinerstraße 15c, 81369 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel]Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk] mit Unterstützung der Bild­redaktion von Kochan & Partner; Homepage: Pavlo Kochan [pk]; Design/Technik: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger über TypeTogether; Versand über Mailjet.

Bildnachweis:
Wikimedia Commons


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